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Bummelplatz

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Alle wie eine, eine wie alle
Fußgängerzonen sind der durchfilialisierte Innenstadt-Durchschnitt. Es gibt sie quasi überall, sie unterscheiden sich aber nur in Nuancen. Dieselben Ketten, die gleichen Beton-Pflanzenkübel, viel Kopfsteinpflastergrau und Reklameleuchten. Das ist einerseits schrecklich langweilig. Andererseits gibt es dem Fremden ein Gefühl der Sicherheit – er weiß, hier kann er schon noch ein Stündchen totschlagen (--> Übernahme, feindliche), hier bekommt er garantiert noch schnell ein Geschenk für die Oma.  

Brunnen
Fußgängerzonen sind manchmal lang, manchmal kurz. Aber es scheint eine Regel zu geben. Sie lautet: Irgendwo muss es in jeder Fußgängerzone einen Brunnen geben. Das ist rein optisch nicht immer ein Gewinn, aber dennoch ist die Regel eine gute. Weil die Brunnen super Treffpunkte sind und im Sommer manchmal Mädchen reinspringen. Zumindest in Jungsträumen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Coventry
Von dort aus startete die Fußgängerzone in den Fünfzigern ihren Siegeszug durch Europa. Sir Colin Buchanan brachte die Idee der Fußgängerzone aus --> Kassel nach Großbritannien. Was er in Hessen gesehen hatte, fasste er in seiner Schrift  "Traffic in Towns" zusammen und ebnete damit der Verkehrsberuhigung der Innenstädte den Weg.    

Duftangriffe
Besonders drängendes Problem der fortschreitenden Fillialisierung (--> Alle wie eine, eine wie alle). Beispiel München: Wo sich einst eine Zeitung und eine Buchhandlung olfaktorisch absolut unauffällig ein Haus teilten, versprühen jetzt V-förmige Herrenmodels Düfte, um kaufwillige Jugend aus einem Umkreis von gut und gerne einem Kilometer zu locken. Wenn daneben noch Ladenketten für Seife oder Parfüms stehen, braucht es nicht Weihnachten zu sein, damit die Luft knapp wird.

El Condor Pasa
Bis vor wenigen Jahren unvermeidlicher Soundtrack in Fußgängerzonen. Immer gespielt auf einer Panflöte. Immer von Männern und Frauen in Ponchos. Ob die inzwischen mit dem Kondor weitergezogen sind oder von der Akkordeon-Mafia (--> Quetschn) verdrängt wurden, ist strittig.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Flashmobisierung
Es gab mal eine Zeit, da war ein Flashmob eine Überraschung. Heute machen von der JU-Ortsgruppe bis zu den Jivamukti-Yogis alle einen Flashmob. Und dafür gehen sie immer in die Fußgängerzone. Überraschend ist also eher, dort einen Samstag ohne Flashmob zu erleben.  

Gegen den Strom  
Einzige Laufrichtung, die es in Fußgängerzonen gibt. Völlig egal, in welche Richtung man läuft. Erst gar nicht versuchen: queren!



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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Halligalli
Die Fußgängerzone ist das natürliche Jagdgebiet deutscher Komiker-Moderatoren (nicht zu verwechseln mit den Privatradio-Praktikanten, siehe --> Voxpops). Solange sie noch nicht jeder kennt, wildern sie dort im ständig vorhandenen Überangebot nichtsahnender und unwissender Bummler. Was wären Joko & Klaas und ihr Circus Halligalli ohne verblüffte Gesichter der Fußgängerzonenpassanten, die plötzlich der rangelnden Jungmoderatoren angesichtig werden? Wo wäre Stefan Raab heute, wenn er früher nicht mit saublöder Brille und noch saublöderen Fragen durch Kölns Innenstadt getingelt wäre? Und erst Simon Gohsejohann! Ohne die Fußgängerzone würde der Mann Selbstmord begehen!      

In-Viertel
Geheimes stadtarchitektonisches Gesetz, das alle Trend-Viertel-Prognosen überlebt: Das oder die In-Viertel befinden sich niemals in der Nähe der Fußgängerzone.

Junggesell(innen)enabschiede
Begegnen einem fast so oft wie die Fans der Fußballvereine, die fürs Auswärtsspiel anreisen (--> siehe Übernahme, feindliche) und sind so was wie die Fußgängerzonenmutprobe (--> siehe Wetten, du traust dich nicht!?) für Erwachsene: Man streift, immer betrunken und oft kostümiert, durch die Straßen und muss dabei peinliche Sachen machen. Laut singen oder eine Banane im Schritt halten, von der Passantinnen abbeißen müssen und dabei fotografiert werden. Solche Dinge. Und man verkauft Zeug, das sich Schnaps nennt, in kleinen Fläschchen. Am besten einen großen Bogen drum machen. Geht manchmal aber gar nicht. Weil man beim Ausweichen gleich auf das nächste Grüppchen trifft.

Kassel
Mit der Treppenstraße in Kassel entstand 1953 die erste Fußgängerzone Deutschlands. Am 9. November vor 60 Jahren wurde sie offiziell eröffnet. Im Dezember folgten die Holstenstraße in Kiel und die Schulstraße in Stuttgart. Die erste Fußgängerzone Europas war die Lijnbaan in Rotterdam, die nur ein paar Wochen vor der Treppestraße eingeweiht wurde.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Lautstärkeregler
Gibt es in der Fußgängerzone nicht. Der Soundtrack der Fußgängerzone ist ein fein gewebtes Kunstwerk aus tausenden kleinen Einzelklängen und unterliegt enormen Schwankungen. Vor dem Karstadt mischt sich das --> El Condor Pasa der Panflötisten bis mit den Gesängen der Fußballfans (--> Übernahme, feindliche), es ist laut und anstrengend. Weiter hinten hat sich ein Geiger strategisch klug in einem akustisch hochwertigen Säulengang vor dem Schaufenster platziert. Das klingt schön – wenn sich nicht gerade die Schiebetür des Fachgeschäfts für Stonewashed-Jeans öffnet und viel zu laut von Nelly Furtados „Big Hoops“ herausschallt.  

München
Gerade belegte es eine neue Studie, München ist – mit mehr als 15.000 Passanten pro Stunde – der Chef unter den Fußgängerzonen im deutschsprachigen Raum, gefolgt von Wien, Stuttgart und Hamburg. Abgesehen von dem Rekord sieht es aber auch dort aus in allen Fußgängerzonen (--> siehe Alle wie eine, eine wie alle). „Auslaufmodell“ nannte Peter Praschl die Münchner Fußgängerzone 2009 im SZ-Magazin, nachdem er dafür durch das „müde Herz von München“ spaziert ist. Und eh klar, in München sind die Mieten für die Ladenflächen in der Zone deutschlandweit am teuersten: 350 Euro pro Monat und Quadratmeter. Jetzt bitte mal überschlagen, wie groß so ein Karstadt ist.

Nur mal kurz schauen
Typisches Beispiel dafür, dass Sprache zum Zwecke der Kommunikation überschätzt ist. Gerade in Stressumgebungen. Frauen und Mädchen sagen den Satz zu ihren Freunden und Männern bevor sie – zum Beispiel – in den H&M gehen.
Was die Herren verstehen:
"Rauch schnell eine. In vier Minuten bin ich wieder da. Ich kenne das Sortiment ja eh."
Was es wirklich heißt:
Stöbern, aussuchen, zögern, anprobieren (anstehen vor der Umkleidekabine), verwerfen, neu stöbern, neu zögern, neu anprobieren (Schlange ist nicht kürzer geworden), an der Kasse anstehen. Stolz den neuen Schal präsentieren, der genauso aussieht, wie der alte.  
Resultat ist die kleine Traube von Männern und Jungs, die sich zu jeder Zeit vor Kleidungsketten aufhält und dort alle Gesichtsausdrücke von hoffnungsvoll über verwirrt bis verzweifelt trägt. Sie sind übrigens nicht zu verwechseln mit den -->Ohne-Ziel-Jungs, oder gar den -->Yo-Bros.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 

Ohne Ziel
Eine Art Jugendbewegung – meist vom Umland in die Stadt. Die Ohne-Ziel-Jungs müssen Zeit totschlagen und nutzen dafür die Fußgängerzone. Und zwar möglichst ungeleitet. Sie suchen nichts Bestimmtes, wollen nichts kaufen und niemanden besuchen. Sie sind da, weil sie zu alt für Spielplätze zu jung für Cafés und zu pleite für ein neues Videospiel sind.

Punks
Die Fußgängerzone ist reiner Kapitalismus. Konsum auf jedem Quadratmeter. Punks müssten diesen Ort hassen. Trotzdem sitzen sie immer irgendwo rum. Außer in München. Eh klar.    



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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Quetsch’n
Umgangssprachliche Bezeichnung für das Akkordeon, das Instrument also, das die Panflöte als Einkaufsbummel-Vertonung abgelöst hat – vielleicht auch verdrängt, da sind sich die Experten uneinig. Statt à „El Condor Pasa“ erklingt deshalb eher Osteuropäisches: Gypsy-Jazz-Versionen von „Autumn Leaves“ oder, bei organisiertem Akkordeon-Können, Brahms „Ungarische Tänze“.

Radieschenpräzisionswerkzeug
Nirgends, vermutlich nicht mal in der dementsprechenden Abteilung im Küchenfachhandel, ist die Gemüsehobel- und Messer-mit-denen-man-super-Sachen-schnippeln-kann-Dichte höher als in der Fußgängerzone. Alle 20 Meter steht ein Händler und schreit alle um ihn herum an, dass Gurkenfächer und Radieschenröschen wirklich nur mit diesem neuen Modell gelingen. Und das Erstaunliche ist: An seinem Stand stehen nie weniger als zehn Passanten und mindestens drei kaufen so ein Wundermesser.

Speakers Corner
Irgendwer spricht immer in der Fußgängerzone. Sind ja auch immer (potenzielle) Zuhörer da. Deshalb baut also, während die IG Metall noch ihre Demo-Bühne abbaut, ein Stückchen weiter der WWF schon seinen Unterschriftensammelstand auf und eine Ecke weiter verkündet der selbsternannte Prophet den Untergang der Welt binnen 24 Stunden, wenn nicht sofort alle mit ihm gemeinsam „Jesus lieben!“. Diese Mitteilungsbedürftigen können amüsant sein, manchmal lösen sie aber auch große Streits aus – Stichworte Salafisten und Koranverteilung. Und wehe dem Fleneur, wenn Wahlkampf ist...  

Totenstille
Nachts sind Fußgängerzonen wie ausgestorben. Kaum Menschen, alles dicht. Fehlt nur noch das Büschel trockenes Gezweig, das wie im Western über das Kopfsteinpflaster durch die Stille weht. Diese Stille ist das Ergebnis einer Fehlkonstruktion, wie Stadtplaner mittlerweile sagen: Die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Verkehr hielt man mal für sinnvoll, sie hat aber dazu geführt, dass in Fußgängerzonen eine ziemliche Monokultur herrscht. In Südeuropa ist das oft anders. Da ist auch nachts was los in den autofreien Bereichen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Übernahme, feindliche
Wenn am Wochenende Bundesliga ist und sich ab vormittags in ganz Deutschland die Fans der Auswärtsmannschaft in die Städte ergießen, landen diese Fans fast immer in der Fußgängerzone. Sie müssen noch Zeit totschlagen bis Spielbeginn, und das geht in der Zone ganz hervorragend. Erstens sind die alle gleich (--> Eine wie alle), zweitens sind sie meist zentral gelegen, drittens gibt es hier Nahrung, Bier und Menschen, die man ein bisschen angrölen kann.      

Voxpops
Wenn Privatsender Nachrichten machen, egal ob im Fernsehen oder im Radio, muss irgendwann Volkes Stimme seine Meinung zu dem Thema kundtun, über das die Republik gerade streitet. Ob Elterngeld oder Eurokrise, die Menschen müssen gehört werden! Deshalb sagt der Redakteur irgendwann zum Prakti: "Hol doch ma paar Voxpops inner Fu-Zo." Der lauert dann hinter einem U-Bahn-Aufgang, friert und sagt 100 Mal sein „Entschuldigung, hätten Sie gaaanz kurz Zeit?“-Sprüchlein, in der Hoffnung, dass einer der Passanten endlich mal mit „Ja, klar!“ antwortet – und dann auch noch was Brauchbares ins Mikro sagt.  

Wetten, du traust dich nicht!?
Einmal in den Beate Uhse-Laden marschieren und wahlweise Kondome kaufen oder sich zum Vibratorkauf beraten lassen, so sah wohl die Mutprobe aller Fünft- bis Siebtklässler aus und wo sie fand statt? Natürlich in der Fußgängerzone, in die mindestens ein solcher Laden gehört und an dem alle Eltern und Großeltern, wenn sie mit ihren Kindern oder Enkeln daran vorbei müssen, ihr Schritttempo beschleunigen. Die Teenagerjungs, die – außer den Teenagermädchen – davor warten und noch nicht so recht wissen, ob sie wirklich reingehen sollen, sind nicht mit den Wartenden vor H&M zu verwechseln (--> siehe „Nur mal kurz schauen“).

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Xmas
Klingt zwar nach Neunzigern, aber das X war halt noch frei. Die Vorweihnachtszeit, also allerspätestens (!) ab November, ist die Hochsaison in der Fußgängerzone. Wegen der durchgängig bis 24. Dezember noch hektischeren Stimmung dort, aber auch, weil sie dann das einzige Mal im Jahr dekoriert ist, nicht nur mit dem Weihnachtsmarkt, der selbst die anzieht, die die Fußgängerzone nie freiwillig betreten.

Yo-Bros
Zweite Jugendbewegung – meist vom Basketball-Platz in den Foot Locker. Anders als die Ohne-Ziel-Jungs wissen die Yo-Bros sehr genau, was sie wollen: die neuen Jordan Super Fly II. Weil sie sich die aber nicht leisten können, lungern sie so lange im Laden rum, bis einer von den neueren Angestellten sie rauswirft. Die älteren lassen sie meistens in Ruhe. Zum einen, weil sie fast zur Familie gehören. Zum anderen, weil sie die stille Bewunderung genießen. Mit ihrem Mitarbeiterrabatt sind die neuesten Modelle für sie schließlich kein Problem.

Zweiradfeindlichkeit
Klar, man darf in Fußgängerzonen nicht Rad fahren. Irgendwann macht man es trotzdem. Is ja nicht so voll heute, da kommt man ja gut durch, und überhaupt, is halt voll die gute Abkürzung. Aber man unterschätzt die Zweiradfeindlichkeit dieses Lebensraums! Man fährt hier in doppeltem Sinne --> gegen den Strom, irgendwer blickt einen garantiert strafend an oder weist einen sogar lautstark auf die Verkehrswidrigkeit der Fortbewegungsart hin. Und früher oder später tut das auch mal ein Streifenpolizist.

Text: jakob-biazza - , christian-helten und kathrin hollmer, Illustrationen: katharina-bitzl

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