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Gestrandet

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Wenn der Herbst kommt, fängt das alljährliche Gejammer über das Sommerende wieder an. Mit den wärmsten Monaten des Jahres verschwinden auch die vielen großartigen Dinge, die ihn zur besten Jahreszeit machen. Um nicht ganz der Melancholie zu verfallen und die Wetterumstellung so angenehm wie möglich über die Runden zu bringen, hilft es, sich auf einen entscheidenden Vorteil zu konzentrieren, den die kalten Monate mit sich bringen - das Verschwinden der Stadtstrände.

Der Stadtstrand ist heute fixer Bestandteil des sommerlichen Stadterlebnisses. Wenn an den sonst kahlen Stellen Sand aufgeschüttet und Palmen und Liegestühle aufgestellt werden, kann man sich sicher sein: Der Sommer steht vor der Tür. Mit seinem abwechslungsreichen Programm weiß der Stadtstrand massenhaft Publikum anzulocken - und zwar aus den verschiedensten Ecken der Gesellschaft: zu Hause gebliebene Stadtbewohner mit hochgerollten Hosen, zeigefreudige Outdoor-Yogis, junge Eltern, die ihren Kindern Piratentücher um den Kopf binden, oder Besucher von Fêtes-Blanches. Der Strand ist der größtmögliche Konsens des Sommers.

Meeensch! Caiipiii! Gude Lauune! Der Kulturstrand an der Isar.

In den vergangenen Jahren hat sich in vielen europäischen Städten der Glaube durchgesetzt, jede Stadt brauche ein bisschen Meer und Sand. So entstanden an den Ufern der Stadtflüsse künstlich angelegte Strände: In München an der Isar, in Berlin an der Spree, in Düsseldorf am Rhein, in Wien am Donaukanal. Der britische Stadtplaner Quentin Stevens erforscht das „Phänomen Stadtstrand“ und hat sich auf deutsche Strände spezialisiert. Seine Nachforschungen zeigen, dass es heute schon über 320 Stadtstrände in 120 deutschen Städten gibt. Allein in Berlin entstanden seit 2001 über 70 davon. Die wachsende Beliebtheit der Kunststrände habe damit zu tun, dass sich immer mehr Menschen den alljährlichen Sommerurlaub nicht mehr leisten könnten oder keine Zeit mehr dafür fänden.

Schon klar, warum alle den Stadtstrand gut finden. An heißen Tagen die Füße im Strand zu vergraben, ist besonders reizvoll, wenn man den ganzen Tag von grauem Beton umgeben ist. Die Sehnsucht in den deutschen Städten nach der Atmosphäre des Meeresufers ist auch deswegen so groß, weil das echte Meer einfach zu weit entfernt ist, um es spontan besuchen zu können. Und das nächstgelegene Salzwasser der Ost- und Nordsee ist vielen zu kalt.

Firmen liefern Sand, Palmen und Livemusik im Komplettpaket

Der erste Stadtstrand Deutschlands wurde 2001 in der Nähe von Stuttgart in Vaihingen aufgeschüttet. Dort schütteten ansässige Künstler und Architekten an der Enz künstlichen Sand auf, um die Stadt etwas wiederzubeleben, erzählt Stadtplaner Stevens. Später wurde der Strand von engagierten Stadtbewohnern weiter geführt, sie sammelten für den Erhalt des Strandes Spenden. Andere Stadtstrände, etwa der Hamburg City Beach Club oder die Strandbar Mitte in Berlin, wurden von Unternehmern aus der Theaterszene oder Musikindustrie gegründet. Dass die ersten Stadtstrände lokale Gemeinschaftsprojekte waren, ist aber heute kaum noch zu erkennen: Rund um den Stadtstrand entstand in den letzten Jahren eine eigene Geschäftsbranche, mitsamt Firmen, die sich auf die Lieferung von Sand, Palmen und Livemusik spezialisiert haben. Viele wollen sich den Erfolg des Phänomen Stadtrandes zu Nutzen machen, ein Stück von der angeblichen Lässigkeit dieses unkonventionellen Orts auf sich abfärben lassen. Aber genau das ist das Problem.

Denn inzwischen ist fast jeder Strand, der anfangs gemütlich und klein war, eine Werbefläche. Der Kulturstrand in München hat den Radiosender Charivari als Medienpartner, zu den Sponsoren des Hamburg City Beach Club zählen Coca Cola und Becks. Die Strände werden für Tagungen und Hochzeiten vermietet. So steht man unweigerlich neben Geschäftsmännern mit gelockerten Krawatten, die zu Lounge-Musik wippen oder landet versehentlich auf dem Partei-Sommerfest des FDP-Ortsverbands.

Es ist das gleiche Phänomen, das auch viele Clubs ereilt: Sobald zu viele Menschen einen vormals exklusiven Ort attraktiv finden, verwässert er bis zur Beliebigkeit. So gut wie nie gelingt der Sprung in die Massentauglichkeit stilvoll.

Der Spagat zwischen Karibik-Gefühl und Mojitos in Pfandbechern ist zu groß

Hinzu kommt noch ein weiterer Faktor. Es passiert dort nämlich etwas, das eigentlich immer passiert, wenn Exotik nachgeahmt wird. Ähnlich wie bei deutschen Touristen, die auf Mallorca mit Sombreros auf dem Kopf „Qué será“ grölen: Der Versuch, etwas grundsätzlich Normales als „exotisch“ oder „südländisch“ zu verpacken, mutet fast immer übertrieben und künstlich an.

„Die Menschen sehnen sich nach einer nahgelegenen Ausbruchsmöglichkeit innerhalb der Stadt. Es ist der krasse Kontrast der Atmosphären, der sie reizt“, erklärt Stadtplaner Stevens das Verlangen nach ein bisschen Strand in der Stadt. Leider wirkt gerade dieser Spagat zwischen Anspruch (Karibik-Gefühl am Stadtweiher) und Wirklichkeit (hochgerollte Bundfaltenhosen und Mojitos in Pfandbechern) unfreiwillig komisch. So wirkt der Stadtstrand leider fast immer wie ein protziges Kostüm, das die Stadt gezwungen wird zu tragen, obwohl es ihr nicht steht und zwei Nummern zu klein ist. Und statt Trost zu spenden, dass man es wieder nicht ans Meer geschafft hat, reibt das künstliche Konstrukt Stadtstrand einem den Makel noch einmal unter die Nase: kein echtes Meer, kein echter Sand, kein echter Strand, kein echter Trost.

Ein Glück, dass jetzt der Herbst kommt.



Text: simone-groessing - Foto: Rumpf / SZ

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