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Citrus Mollathiensis

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Man weiß jetzt schon: Das wird ein Bild für die Jahresrückblicke sein. Gustl Mollath ist frei und verlässt die geschlossene Psychiatrie in Bayreuth - mit einer Topfpflanze in der Hand. Sie ist auf quasi jedem Foto zu sehen, das auf den Titelblättern von praktisch allen deutschen Zeitungen in Deutschland prangte. Neben der Freude über seine Freilassung beschäftigt das Internet, vor allem die Twitter-User, jetzt auch die Frage: Was hat es mit diesem kleinen Bäumchen auf sich?  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auf dem Weg in die Freiheit: Gustl Mollath mit Pflanze.

Bei seiner Entlassung trug Gustl Mollath ein buschiges Gewächs vor sich her, er hätte sie sich auch vors Gesicht halten und sich verstecken können. Hat er aber nicht. In den Stoffbeutel, den er noch dabei hatte und mit dem er sich immer wieder den Schweiß vom Gesicht tupfte, steckte er sie auch nicht, er gibt sie nicht aus der Hand. Es ist ein rührendes Bild, das da in die Geschichte eingeht, auch wenn es keinen Tag gedauert hat, bis der erste Tumblr sich darüber lustig macht. "Crazy people holding Mollaths Pflanze" heißt er auch noch. Viel interessanter als die montierten William-und-Kate- und Markus-Lanz-Fotos ist aber die Headline, mit der viele Zeitungen und Webseiten getitelt haben: "Mit Dattelorange in die Freiheit." Dattelorange? Eine seltsame Kreuzung aus Dattel und Orange? So, wie man auch Äpfel und Birnen im Garten kreuzen kann?

Ein Anruf bei der Biologie-Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München bringt Klarheit: "Eine Dattelorange gibt es natürlich nicht", sagt Dr. Matthias Erben vom Bereich Systematische Botanik und Mykologie. "Für eine Kreuzung stammen die Pflanzen aus zu unterschiedlichen Familien. Da wäre höchstens gentechnisch etwas möglich." Aus dem Topf wachsen einfach zwei verschiedene Pflanzen mit unterschiedlichen Blättern, die schmalen gehören zu einer Dattelpalme, die anderen zu einer Zitrusfrucht. "Wahrscheinlich ist es ein Orangen- oder Kumquat-Bäumchen", sagt Matthias Erben. Wenn man genau hinschaut, sieht man auch noch zwei Palmzweige im Topf stecken.  

Als Mollath nach seiner Entlassung von Journalisten interviewt wurde (hier in voller Länge), redete er minutenlang nur über die Pflanze. Vor Weihnachten, erzählte er, habe ein katholischer Pfarrer einmal Andachten gehalten und Datteln verschenkt. Aus den Kernen habe er sich die Palme gezogen und dazu Orangenkerne eingebaut, daraus sei das Bäumchen geworden. "Datteln und Zitruspflanzen vertragen sich durchaus und können nebeneinander wachsen", erklärt Matthias Erben. "Wenn man etwa fünf unbehandelte Dattelkerne einbaut und feucht hält, keimen die ganz gut, nach ein bis zwei Monaten sieht man schon etwas. Mit trockenen dauert es etwas länger. Von Zitrusfrüchten sollte man zehn bis 20 Kerne einbauen, die keimen nach vier bis fünf Wochen, wenn man keine sterilen erwischt hat. Für beides reicht erst mal ein kleiner Topf."  

Weil er keine oder kaum Erde zur Verfügung hatte, hat Mollath MacGyvermäßig zwischendurch mit dem Inhalt von Teebeuteln improvisiert. Auch das geht, sagt Matthias Erben. "Die Samen tragen alle Nährstoffe in sich, das Ganze muss nur feucht gehalten werden, das ginge auch mit eingeweichtem Papier, Kresse überlebt ja auch in Styropor. Nur ewig geht das nicht, mit der Zeit, vor allem im Wachstum, könnten sie dann doch irgendwann verkümmern." Matthias Erben schätzt, dass Mollath die Pflanzen schon jahrelang pflegt: "Zitrusbäumchen wachsen sehr langsam, bis eines 30 bis 40 Zentimeter groß ist wie das von Mollath, dauert es schon fünf bis sechs Jahre."

Eine "Dattelorange" ist am Dienstag also nicht erfunden worden, vielleicht war für manche die Vorstellung, Mollath hätte in der Psychiatrie Dr. Frankenstein gespielt, einfach zu verlockend. Dabei ist die Erklärung viel einfacher, viel tragischer: Er brauchte eine Beschäftigung, eine Aufgabe. Und dass das gelungen ist, sei "eine große Freude" gewesen, sagte er den Journalisten. Als Mollath später im Auto saß, hielt er sie am Schoß. Vorher sagte er noch: "Sie ist jetzt schon etliche Jahre meine Mitgefangene, darum passe ich auch ein bisschen darauf auf (...) Sie hat etliche Zimmerrazzien miterlebt, da fühlt man sich schon in gewissem Maße verbunden." Lange Zeit hatte er nur sie.


Text: kathrin-hollmer - Foto: dpa

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