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Die Wahl-Kolumne, Folge 3: Die Weisheit der Straße

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Was ich am allermeisten hasse an meinem Beruf: Umfragen. Trotzdem: Ich muss raus auf die Straße, um vielleicht dort eine Antwort auf mein Politikdilemma zu finden. Denn bei der letzten Wählerumfrage von Stern und RTL lautete das Ergebnis: Schwarz-Gelb. Wäre morgen Wahl, könnte sich Frau Merkel also entspannt auf ihrem Stuhl zurücklehnen und ihr Kabinett bekäme noch ein paar Flaschen warmen Sitzungs-Orangensaft aufs Haus. Äh, den Steuerzahler. Das konnte ich nicht glauben bei all der Meckerei, deshalb gehe ich auf die Straße. Sonst ist es September und ich weiß immer noch nicht, was ich wählen soll.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Die Ausbeute drei Stunden später:

Silvia, 28, wählt Grün, weil sie was für die Umwelt tun will, hat sich aber noch nie mit den Parteiprogrammen zum Naturschutz befasst.
Jörg, 24, wählt Rot, weil der ganze Kapitalismus uns zugrunde richten wird. Ich hake kurz ein, dass die Linke da vielleicht attraktiver wäre. "Die meinte ich ja!" Okay, sorry. Farbnuancenverwechslung.
Stefan, 30, wusste gar nicht, dass bald schon wieder Wahl ist.
Heinz, 54, wählt die CSU, weil man unser schönes Bayern schützen muss. Vielleicht auch die Freien Wähler, weil das, was die sagen, auch nicht schlecht klingt. Was sagen die denn? "Ja, die wollen halt auch, dass es uns hier weiterhin gut geht."
Yasmin, 33, wählt Rot-Grün, weil ihr Frau Merkel unsympathisch ist. Dass Peer Steinbrück Kanzlerkandidat für die SPD ist, war ihr so aber auch nicht klar. "Das ist doch der, der für alles Geld will, oder?"
Can, 31, Yasmins jüngerer Bruder, findet das saupeinlich und typisch für seine Schwester, er wählt FDP. Er geht doch nicht für die ganzen Schmarotzis arbeiten.
Alissa, 38, wählt die SPD, weil sie kein Geld mehr in marode Staaten pumpen will. (Ach, und die SPD würde das nicht tun? Das wäre mir neu.)
Elias, 19, findet die Piraten zwar in Ansätzen gut, ihr Verhalten in machtvollen Positionen aber total unprofessionell und wird deshalb wahrscheinlich Rot-Grün nehmen.
Flo, 27, wählt immer ungültig. Dann geht das zu Ungunsten der Minderheiten-Parteien, die keiner braucht mit ihrem braunen Dünkel. Hä?

Das alles macht mir ein bisschen Angst. Ich wohne im Münchner Univiertel, da hätte ich etwas differenziertere Antworten erwartet. 

Insgesamt wäre laut meinem Viertel im Oktober Herr Steinbrück an der Macht und nicht mehr Frau Merkel. Sprich: das Gegenteil der Stern-RTL-Umfrage. Gut, auf dem Land wär das Resultat sicher anders. Außerdem war ich tagsüber unterwegs, wo die meisten in ihren Büros sitzen. Und natürlich habe ich keine Besoffenen oder die Insassen des Touri-Busses aus dem Schwarzwald angesprochen. Ich habe mich aber wohl bemüht, in ihrem Auftreten unterschiedliche Leute zu befragen. 

Besonders eine Sache fiel mir auf: Ganz viele würden Merkel an sich behalten wollen, ihre Minister aber nicht. Noch besser wäre es, sie wäre bei einer anderen Partei. Da geht's mir ähnlich, bringt aber nichts - wir spielen hier ja nicht "Hätte, hätte, Fahrradkette". Ich trotte heim, enttäuscht. Denn: Eigentlich weiß keiner genau, wofür welche Partei steht. So mache ich zuhause vor meinem Computer etwas echt Unrepräsentatives. Ich frage meinen einzigen politisch engagierten Freund Jens, warum ich seine Partei wählen soll. Er ist bei den Jusos und schreibt: "Die SPD will keine Ego-Gesellschaft, sondern das soziale Miteinander stärken. Das organisiert man dadurch, dass man die Voraussetzung dafür schafft, dass jeder die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg hat und durch eine soziale Absicherung, die jeden vor Armut schützt. Und das alles unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Vermögen."
Das ist doch mal 'ne Ansage! Ob meine Umfrage-Opfer das wissen?

Text: michele-loetzner - Illustration: katharina-bitzl

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