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Ding der Woche: die Sackgasse

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Jahresrückblicke und -bestenlisten erfreuen sich wohl deshalb so großer Beliebtheit, weil sie dem Betrachter suggerieren, schnell das Chaos der vergangenen 365 Tage zu überblicken und was sich davon zu behalten lohnt: das Album, der Film und das Tor des Jahres, die Menschen, die Tiere, die Emotionen von 2012, und neben großen Momenten auch mal kleine Kuriositäten, die der Listenersteller in die Top Irgendwas hineingeschummelt hat. Man muss ein solches Rückblicksranking aber natürlich nicht kuratieren, sondern man kann auch einfach die Zahlen für sich sprechen lassen.             

Der schwedische Software-Entwickler Johan Gunnarsson hat das getan und für verschiedene Ausgaben der Wikipedia ein Ranking der meistabgerufenen Artikel 2012 aufgestellt. Dazu hat Gunnarsson, der auch Wochen- und Monatstrends der Wikipedia bereitstellt, die Abrufzahlen der Wikimedia Foundation analysiert.  
Wie jedes Ranking lässt sich natürlich auch dieses zunächst einmal vergleichend lesen: Weltweit, und das hätten wir ja so nun auch nicht zu vermuten gewagt, interessieren sich die Menschen für Facebook. Der Artikel über Zuckerbergs Netzwerk war der meistabgerufene in der englisch- und der spanischsprachigen Wikipedia, in der deutschsprachigen Ausgabe hat es der Eintrag zumindest gerade noch in die Top Ten geschafft. Außerdem oft von großem Interesse: die frisch Verstorbenen, wie der dritte Platz sowohl für den „Nekrolog 2012“ in der deutschen Wikipedia als auch für „Deaths in 2012“ in der englischen Enzyklopädie belegt. Es lässt sich darüber hinaus gleich auch überprüfen, ob der eigene Serienkonsum dem Mainstream entspricht oder nicht. Im deutschsprachigen Kulturraum befinden sich dort, so  sprechen die Zahlen, US-Sitcoms: Platz vier im Artikelranking geht an „How I met your mother“, Platz fünf an „The Big Bang Theory“, Platz acht an „Two and a Half Men“.  

Das interessanteste an der Auswertung ist aber der kuriose Spitzenreiter: Auf Platz eins der deutschsprachigen Wikipedia liegt mit über zehn Millionen Aufrufen ausgerechnet der Artikel über die Sackgasse. Der Eintrag ist kurz und recht spröde geraten und man ist nicht nur deswegen geneigt zu fragen: Wie kommt’s? Etwa einen popkulturellen Meta-Trend verschlafen?          

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Eine wahrscheinlichere Erklärung könnte der Erfolg einer britischen-irischen Boygroup in Verbindung mit einem Übersetzungsfehler und einer falschen Verlinkung sein: „One Direction“ bricht dieser Tage schließlich weltweit Teenagerherzen, auch die vorderen Platzierungen in den Rankings der fremdsprachigen Wikipedia-Ausgaben belegen das Interesse an der Band. One Direction lässt sich zwar nicht mit Sackgasse übersetzen, aber zumindest fast mit Einbahnstraße und das ist ja auch irgendwie fast das Gleiche.  

Eine andere Erklärung für das massenhafte Interesse an der Sackgasse besteht in den mysteriösen Wegen, die künstliche Intelligenz einschlägt: Bots, zum Beispiel die Crawler von Suchmaschinen wie Google, könnten für die millionenfachen Abrufe des Sackgasseneintrags verantwortlich sein. „Leider habe ich keine Möglichkeit, zwischen Abrufen von Menschen und Abrufen von Bots zu unterscheiden“, schreibt Johan Gunnarsson. Für den ähnlich kuriosen Erfolg des Eintrags zum chinesischen Gebirge „Hua Shan“ in der niederländischen Wikipedia werden jedenfalls Bot-Zugriffe als Ursache vermutet. 

Ob sich noch eine dieser Erklärungen oder eine ganz andere als die richtige herausstellen wird, oder ob wir hier womöglich in einer, Entschuldigung, Sackgasse gelandet sind, ist noch unklar. Das Zauberhafte an den Wikipedia-Charts mit der Sackgasse als Spitzenreiter entsteht aber sowieso erst in Folge ihrer Bekanntgabe: Zunächst einmal ist das Ranking ein schöner Beleg dafür, dass Zahlen nicht immer so viel Wahrheit erhalten, wie wir gerne glauben würden. Vor allem aber kommt die Sackgasse nun zu ihren 15 Minuten Ruhm, die ihr schließlich genauso zustehen wie uns allen: Weil jemand aus welchen Gründen auch immer festgestellt hat, dass die Sackgasse der heiße Scheiß 2012 gewesen sein muss, interessieren sich auf einmal alle, auch Nicht-Bots, für sie (statt für One Direction) und lesen zumindest ihren Wikipedia-Eintrag. Wir harren nun gespannt der folgenden Ereignisse: Hymnen und Elogen auf die Sackgasse? Ein kleines Mem über den Jahreswechsel? Zumindest dürfte sich demnächst doch hoffentlich jemand erbarmen und der Sackgasse einen etwas umfangreicheren Wikipedia-Artikel spendieren.      



Text: juliane-frisse - Bild: Timmitom/photocase

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