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Milde gesagt: Unerklärlich

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Vier Wochen lang schlummerte ein Song auf „Gespaltene Persönlichkeit“, der aktuellen Platte von Xavas, ohne dass sich jemand dafür interessierte. Kein Wunder, der Song war ein "Hidden Track", versteckt, ganz am Ende der CD-Laufzeit. Der Inhalt: Behauptungen über satanistische Kindsmorde einer weißen Machtelite, die angeblich in ganz Europa stattfinden sollen. Dazu Drohungen, die Kinderschänder und Homosexuelle gefährlich nah nebeneinander stellen und auf die der krude Ruf „Wo sind unsere Führer?“ folgt. Vier Wochen lang interessierte sich niemand so richtig dafür, bis gestern die Linksjugend Strafantrag gegen Kool Savas und Xavier Naidoo stellte. Ihr Vorwurf: Homophobie, Aufruf zu schwerer Körperverletzung, Totschlag und Volksverhetzung. 

Presse, Blogs, Twitter, Facebook: Die Empörungsmaschinerie läuft an, sie tut das auch zu Recht, verliert sich aber meist gleich in Stereotypen: Rapper ist gleich gewalttätig, stumpf und schwulenfeindlich. Das Duo Xavas hat mit seinem, milde gesagt, unerklärlichen Song mehrere dieser Klischees bedient. Unerklärlich, weil ein Text über satanistische Kindsmorde Fragen aufwirft, derer Beantwortung sich die Künstler entziehen. Unerklärlich, weil sie aktuell durch Androhung von Interviewboykotts in Richtung kritisch berichtender Medien den Status „Missverstandener Künstler“ überstrapazieren. Unerklärlich, weil der Song versteckt wurde – nicht nur auf der CD selbst, sondern auch vor der Presse: Auf den Vorabversionen, die als Interviewvorbereitung verschickt wurden, war der Song nicht enthalten. Dieses Versteckspiel der Künstler macht zu Recht skeptisch, und lädt dazu ein, eben jene Stereotypen zu bemühen: Gewalttätig. Stumpf. Schwulenfeindlich. Es genügen ja ein paar Zeilen aus Kool Savas’ Vergangenheit , um zu zeigen: das hier, das ist ein ganz schlimmer Finger. Dass Savas aber mittlerweile gänzlich andere Themen anspricht – nee, lass mal.

Fakt ist: Künstler haben das grundsätzliche Recht, über das zu singen, wonach ihnen der Sinn steht. Fakt ist aber auch, dass Songs rezipiert werden, und dass diese Rezeption Fragen aufwirft, die beantwortet werden wollen. Das muss diesen gestandenen Künstlern, besonders aber Xavier Naidoo klar sein. Wer sich wie er derzeit laufend via Fernsehschirm in bundesdeutschen Wohnzimmern aufhält, kennt die eigene Fallhöhe und die Medienklaviatur sehr gut. Die Kontroverse um den Song besteht aus mehr als den Fragen: Ist das schwulenfeindlich? Ist das ein Aufruf zur Selbstjustiz? Ist das mit der Menschenwürde zu vereinbaren? Es muss ebenso hinterfragt werden, wie ein komplettes Verwertungssystem, bestehend aus Produzenten, Managern, Verlegern, Promotern und Plattenfirmen, allesamt – ob kalkuliert oder nicht - „Ja“ zu diesem Song sagen konnte, und ihn somit produzieren ließ?

Klar, die im Song enthaltenen Textzeilen und die Gesinnung dahinter sind allesamt komplett abzulehnen. Die Anzeige der Linksjugend wird vermutlich juristisch nicht haltbar sein, aber sie ist ein gangbarer Weg in Richtung inhaltsgetriebener Debatte. Nur besteht der Inhalt eben nicht nur aus der Interpretation einzelner Textzeilen. Den Finger in eine Richtung zu zeigen reicht nicht aus, weder für die Ankläger noch für die Angeklagten. Denn klar ist auch: die Kontroverse bezieht sich explizit nicht auf ein HipHop-Phänomen, sondern auf eine gesellschaftliche Strömung, diesmal transportiert durch HipHop. So bleibt zu befürchten, dass diese Kontroverse nur einen Gewinner hervorbringen wird: jene Gruppe im Web, die an die wirre Theorie dieser Kindsmorde glaubt und die Xavas bejubelt, weil sie vermeintlich endlich aussprechen, was viele insgeheim denken. Und damit ist ja nun wirklich keinem geholfen.        

Daniel Köhler ist langjähriger Autor des Hiphop-Fachblatts Juice und Chef vom Dienst bei Radio Fritz.



Nachtrag: Es gibt ein aktuelles Statement der beiden auf xavas.com


Text: daniel-koehler - Foto: dapd

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