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Wohnst du noch oder skypst du schon?

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Auf  dem Bildschirm sehe ich ein fremdes Wohnzimmer. Ein Bücherregal, ein Pulpfictionposter und einen halbe Zimmerpalme. Vor der Webcam sitzen zwei Gesichter, die ich vorher noch nie gesehen habe. Es sind Tina und Alex, laut Ihrer Anzeige beide Mitte Zwanzig, Studenten, Nichtraucher, Alex ist Bayernfan, Tina mag Musik von Arcade Fire. Sie lächeln freundlich. Unten links sehe ich mein weiß leuchtendes Gesicht, ich lächle auch. Wir sind hier nicht bei Chatroulette, ich bin einfach nur auf Wohnungssuche. Und das ist gar nicht so leicht, wenn man 400 Kilometer entfernt wohnt. Deswegen haben wir uns zur Besichtigung auf Skype verabredet. Wo ich sonst mit weit entfernten Lieblingsmenschen rede, habe ich jetzt ein Bewerbungsgespräch mit zwei Fremden. Bisher habe ich nur einmal meine Wohnung via Skype vermittelt, während eines Auslandssemesters, als Notlösung. Dass ich eine Skypebesichtigung auch mal von der anderen Seite erlebe, hätte ich eher nicht gedacht.

"Siehst du was?" - WG-Besichtigung mit der Webcam.

Bachelor und Master, Praktika und Auslandssemester, dazu noch doppelte Abiturjahrgänge -  all das führt dazu, dass immer mehr junge Menschen kurzfristig nach einer Wohnung suchen. Oft nur für ein paar Monate, solange bis etwas anderes in Aussicht oder das Praktikum vorbei ist. Dafür mehrere hunderte Kilometer zu pendeln, ist nicht nur aufwändig, sondern auch teuer. Skype ist daher eine kostengünstige Alternative zum klassischen Besichtigungtermin. Vorher werden auf Plattformen wie wg-gesucht.de oder studenten-wg.de erste Infos ausgetauscht, Fotos geschickt, Einzugstermine abgeglichen. Dann das Date bei Skype. Kann das funktionieren?

Ich blicke ein bisschen nervös dem verpixelten Bild auf meinem Bildschirm entgegen. Irritation auch von der Gegenseite: „Siehst du was?“ Die Leitung knackt, das Bild der Zimmerpflanze stockt. Die Verbindung ist schlecht, nach ein paar Versuchen steht dann endlich der Draht nach München. Der gemeinsame Kampf mit der Technik ist schon mal die erste Feuerprobe für die Gruppendynamik. Die Situation ist so absurd, dass Lachen immer passt, also verläuft das Gespräch automatisch heiter. Gar nicht so schlecht. Wir reden fast eine halbe Stunde lang, über all das, was man auch sonst bei einer Besichtigung so sagt und fragt, vom Spüldienst bis zum Tatort schauen. Am Ende kommt die Wohnungstour, leicht verwackelt, aber ausreichend. „Ja, also von unserer Seite würde es passen“, lautet das Fazit der beiden am Ende. Und ich? Kann ich wirklich in eine Wohnung ziehen, die ich noch nie vorher gesehen habe? Mit Menschen wohnen, denen ich noch nicht einmal die Hand gegeben habe? Ich denke an die zahllosen Wohnungsanfragen, die ich schon verschickt habe, die riesigen Angebotslisten auf WG-Portalen, die wenig erfolgversprechenden Besichtigungstermine, die noch vor mir liegen. Und sage zu.

Wohnungssuche erfordert Vertrauen, von beiden Seiten. Das ist auch bei einer normalen Besichtigung nicht anders. Vertrauen darin, dass der potentielle Mitbewohner wirklich nur entspannt ist und nicht dauerbekifft, die Küche auch ohne WG-Casting ähnlich aufgeräumt aussieht und nach zwei Wochen nicht auf einmal die WG-Freundin mit Trennungsschmerz aufs Sofa zieht. Dafür gibt es keine Garantie, genauso wie sich die anderen nicht darauf verlassen können, dass du nicht eigentlich passionierter Didgeridoospieler bist oder am Wochenende deine Fruchtfliegenzucht aus dem Labor auf dem Fensterbrett beherbergst. Mit Fremden zu wohnen, birgt immer ein gewisses Risiko. Das lässt sich auch nicht durch persönliches Kennenlernen ausschließen. Alex und Tina zumindest sind in echt nicht weniger nett als bei Skype. Und auch mit meinem Mitbewohner im Auslandsjahr habe ich keine böse Überraschung erlebt.

Eine Zusage bei Skype erfordert trotzdem eine Portion mehr Mut, weil eine weitere Unbekannte hinzu kommt: Du bist nicht wirklich da gewesen. Wer also kurzfristig ein Zimmer sucht und sich mit Fotos und Skypebesichtigung begnügt, darf nicht enttäuscht sein, wenn sein Zimmer über die Webcam viel größer aussah, er nichts vom Lärm der Umgehungsstraße gehört hat oder der Mitbewohner nichts von den schwachen Heizkörpern erzählt hat. Und es ist schon etwas anderes, ob du jemandem gegenübersitzt oder sein verschwommenes Bild bei Skype anlächelst. Ob du über die Straße gehst, in der du mal wohnen wirst, ein nettes Café entdeckst und das Viertel erkundest. Ob du in der Wohnung stehst, Größenverhältnisse und Staublevel abschätzen kannst und vor allem: Merkst, ob du dich wohlfühlst. Das Gefühl lässt sich online nämlich nicht ermitteln.


Text: sina-pousset - Illustration: Tuong Vi Pham

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