Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Ich wollte nie, nie so sein

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Vor ein paar Tagen hatte ich mein erstes Mal und es tat sehr, sehr weh.
  Ich konnte höchstens zwei Stunden geschlafen haben. Neben mir lag meine Freundin, hellwach, ihr Blick brannte Löcher in die Zimmerdecke. Ich hatte geträumt, ich hätte eine Stelle als Turbinenanstreicher bei Airbus, ich stünde in einer Werkshalle, in der bärtige Männer mit Schraubenschlüsseln auf Rohre schlagen und mit Bolzenschussgeräten Bolzen in Flugzeugflügel schießen. Es war unglaublich laut, so laut, dass ich aufwachte, und als ich wach war, blieb der Lärm einfach da.

  „Wie spät ist es?“, fragte ich. „Zwanzig vor zwei“, sagte meine Freundin und ich erwiderte: „Sag mal, haben die den Arsch offen?“ 

  Ich wohne in der Großstadt, in einem Viertel, das als angesagt gilt. Die meisten Leute wohnen hier nicht, weil sie nachts schlafen wollen. Sondern, um sehr laut Two Step, Drum’n’Bass und Big Beat zu hören, heute anscheinend in der Wohnung unter mir. Ich zog eine Hose an und Schuhe. Und klingelte. Nichts rührte sich. 

  Ich klingelte noch mal. Ein grinsender Kerl stand in der Tür. „Was’n?“, fragte er. „Sorry, könnt Ihr ein bisschen leiser machen bitte, das geht alles total durch die Wände.“ – „Ja, klar, ’tschuldigung“, sagte er und schloss die Tür. Ich ging nach oben, zog die Schuhe aus und wartete. Dann zog ich die Schuhe wieder an. Und klingelte. 

  „Hey, könnt Ihr bitte, bitte leiser machen“, sagte ich. Jetzt stand mir jemand anderes gegenüber. „Leiser! Bitte!“, sagte ich. „Ich wohne direkt drüber.“ Ich lief nach oben und stellte meine Schuhe in den Flur, unten setzten die Bässe aus. „Endlich“, sagte meine Freundin. Dann setzten die Bässe wieder ein.
  Ich glaube, ich war noch nie so schlecht gelaunt. 

  „Warst du nicht gerade schon mal da?“, fragte der Typ in der Tür. Ich erwiderte ein paar Dinge, auf die ich nicht stolz bin. In meinen Ausführungen kam der Begriff „Ruhestörung“ ebenso vor wie „Polizei“, „Frechheit“ und „Vermieter“. Der Typ in der Tür schaute mich mit großen Augen an. „Na dann“, sagte er, „herzlichen Glückwunsch.“   

  Ich ging nach oben, zog mir zum dritten Mal die Schuhe aus und verkroch mich unter der Decke. Die Musik war weg. 

  Sorry, könnt ihr ein bisschen leiser machen, das geht alles total durch die Wände. / Hey, könnt ihr bitte, bitte leiser machen. / Leiser, sofort, Frechheit, ihr habt sie ja nicht mehr alle, Ruhestörung, Arsch offen, Vermieter, Polizei! 

  Ich schäme mich.
  Ich habe mich, wie es aussieht, bei meinen Nachbarn wegen zu lauter Musik beschwert. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Wie das passieren konnte.
  Mein Plan war nämlich: Ich wollte das nie, nie tun. Ich wollte nie, nie so sein – frustriert, miesepetrig, es gibt sogar ein Wort dafür: grantig. Menschen, die grantig sind, schießen mit der Schrotflinte auf Spatzen, weil sie ihnen auf die Nerven gehen mit ihrem blöden Gezwitscher. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich nie so werden würde. 



Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Meine Großeltern wohnten früher in einem Mietshaus, im vierten Stock. Im dritten Stock wohnte ein grantiger, alleinstehender Herr, nennen wir ihn Clausthaler, ein grobschlächtiger Kerl, der kleine Kinder fraß. Den ganzen Tag saß Clausthaler in seinem Wohnzimmer und wartete nur darauf, dass jemand Lärm machte, hieß es. Dann würde er kommen, um sich zu beschweren. Ich habe ihn in all den Jahren nur zweimal zu Gesicht bekommen, zufällig, im Treppenhaus. Aber wenn ich aufhören sollte, auf dem Sofa herumzuhüpfen, war Herr Clausthaler als Argument sehr wirksam. Ich wollte nicht gefressen werden. Damals beschloß ich: Ich werde mich, wenn ich mal groß bin, nie über spielende Kinder aufregen oder mich über lärmende Nachbarn und andere Normalitäten beschweren. 

  Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Und ich habe mich nicht nur bei lärmenden Nachbarn beschwert. Es gibt mittlerweile nichts, was mich mehr nervt, als Kinder, die unter meinem Fenster Fußbälle gegen Garagentore kicken, oder mit dem Skateboard ausdauernd ein und denselben Sprung üben, wenn ich arbeiten muss. 

  Ich würde mich mit der Person, die ich vor zwanzig Jahren war, nicht sehr gut verstehen. Innerhalb von zwanzig Jahren ist aus mir ein kleiner Herr Clausthaler geworden.
  Aber ich bin nicht der einzige. 

  Eine Freundin, eigentlich entspannt, bekannte, sie meide eine bestimmte Fluglinie, weil dort auf fast allen Flügen ein Kind an Bord sei. Diese Freundin kann sehr lange und hingebungsvoll über das kinderfeindliche Deutschland schimpfen, über Leute, die Kitas in der Nachbarschaft wegen Lärmbelästigung verhindern wollen. Aber wenn sie fliegen müsse, bezahle sie lieber mehr, sagt sie, und habe dafür keine kreischenden Kinder um sich herum, die gegen die Rückenlehne treten, Essen an den Sitz schmieren und in Papiertüten kotzen. 

  Eine Definition des Grantlers hat Paul Watzlawick geliefert. In seinem Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ erzählt der Kommunikationswissenschaftler dazu die Geschichte einer Frau, die sich bei der Polizei beschwert, dass vor ihrem Fenster ein paar Buben nackt im Fluss baden. Die Polizei kommt und bittet die Buben, ein Stück weiter flussaufwärts zu baden. Die Frau beschwert sich wieder, sie könne die Buben immer noch sehen. Die Polizei kommt, die Buben verziehen sich noch ein Stück weiter, die Frau ruft erneut an: Mit dem Fernglas könne sie die Buben immer noch ganz genau erkennen. Das heißt: Es gibt Menschen wie Herrn Clausthaler, die im Zimmer sitzen und nur darauf warten, dass irgendwo jemand Lärm macht.
  Aber so einer, denke ich, bin ich nicht. Oder?

  Wenn ich einen Teebeutel in meiner Spüle finde, halte ich einen Monolog. Ich werde unangenehm. Ich frage mich erst noch, ob ich wirklich etwas sagen soll, sage dann aber was: Du, (okay, ich sage jetzt wirklich was) warum liegt denn jetzt schon wieder ein Teebeutel in der Spüle (Gut! Das ist gut!)? Hab ich dir nicht schon hundertmal gesagt (Nicht gut!), dass du die in den Müll schmeißen sollst? Die reißen doch sofort auf, wenn da jemand (Du!) Nudelwasser draufschüttest, und dann müssen wir (Ich!) das vergammelte Zeug aus dem Abfluss pulen. Hörst Du mir zu? (Schreie ich hier wirklich gerade wegen eines Teebeutels herum?) Könntest Du bitte (jetzt klinge ich wie meine Mutter) – ach, vergiss es (okay, nichts wird sich ändern, ich Trottel, nie wollte ich so werden). 

  Ich habe jetzt einen Psychologen angerufen und gefragt, ob ich normal bin, wenn ich alle Absichten, nicht wie Herr Clausthaler zu werden, ignoriere. Meine Hoffnung war, dass er einfach nur „Ja“ sagt. Aber seine Antwort wurde ein ausführliches „je nachdem“:

  Wenn ich einen Parkplatz suche, sagt der Münchner Diplom-Psychologe Egbert von Fromberg, und ich finde einen und jemand schnappt ihn mir weg, dann sei es normal, dass ich mich ärgere. Wenn ich dann aussteige und mit dem Hammer auf das Auto des anderen Fahrers einschlage, dann wäre das übertrieben. Wenn ich aber nur kurz „Arschloch“ denke, sei alles okay.
  „Wenn Sie sich über Ihren Nachbarn ärgern, ist der sehr wahrscheinlich nicht allein schuld“, sagt Fromberg. Grant, sagt Fromberg, entsteht meistens aus anderen Gründen. Durch Ärger auf der Arbeit oder mit Kollegen (habe ich nicht); durch Druck, in welcher Form auch immer (habe ich, ist aber auszuhalten); durch Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen (nein). Grant, sagt von Formberg, entstehe aber auch schlicht durch Reife. Ein bisschen Lockerheit zu verlieren, gehöre zum Erwachsenwerden, sagt Fromberg.
  Da haben wir’s: Ich werde erwachsen.

  Egbert von Fromberg spricht von „Angemessenheit“: Wenn ich nicht schlafen kann, weil aus der Nachbarwohnung die Bässe dröhnen, steht es mir zu, an der Tür um Verständnis zu bitten. Wenn ich in meiner Wohnung sitze und beim ersten Mucks aus der Nachbarwohnung die Polizei rufe, soll ich mir professionelle Hilfe suchen, sagt der Psychologe. 

  Ein Freund, nennen wir ihn Daniel, ist kürzlich in Hamburg aus einer WG in eine eigene Wohnung gezogen und dann wieder in eine WG. Früher, sagt er, beschwerte sich immer sein Mitbewohner, es lägen Haare in der Dusche herum, die nicht von ihm stammten. Ihm gegenüber sagte Daniel nichts, mir gegenüber erwähnte er immer wieder, was er von der Pingeligkeit seines Mitbewohners hält: nicht sehr viel. Nun ist es andersherum: Daniel hat schlechte Laune, weil er Haare seiner Mitbewohner in der Dusche findet. Bislang hat er nichts gesagt, kürzlich sagte er aber, er denke darüber nach, doch mal an die Tür seines Mitbewohners zu klopfen. Daniel ist 21. 
  Ich muss an PeterLicht denken, der in einen Liedtext schrieb: „Gesellschaft ist toll, wenn nur all die Leute nicht wär’n.“

  Wahrscheinlich werde ich mir den neu erworbenen Grant nicht abtrainieren können. Wahrscheinlich werde ich eines Tages meinen Kindern sagen: ,Räum Dein Zimmer auf.‘ – ,Wie sieht es denn hier wieder aus.‘ - ,Zieh dir was Ordentliches an.‘ Ich dachte immer, wer erwachsen wird, muss lernen, gelassen zu sein. Offenbar ist es genau umgekehrt und der Verlust der Gelassenheit gehört tatsächlich zum Erwachsenwerden.
  Neulich erzählte mir eine Kollegin, sie habe morgens in die S-Bahn einsteigen wollen und sei einen Moment lang den Leuten im Weg gestanden, die aussteigen wollten. Ein älterer Mann schimpfte sie eine „Alte Saukuh“. Die Kollegin war erschüttert. Es gibt nur diesen Trost: Sie ist nicht allein schuld. Und er hätte vor zwanzig, dreißig Jahren mit Sicherheit nicht gedacht, dass er das einmal sagen würde. 

Text: florian-zinnecker - Foto: AllzweckJack/photocase.de

  • teilen
  • schließen