Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Hinfort mit dir, oh Nimmerland

Text: Annika_Kerouac

Verschwommen sehe ich die Kratzer im Glas. Zeichen der Zeit. Wind, Regentropfen, Äste, die ein Sturm gegen das Fenster gepeitscht hat. Spuren früherer Tage. Draußen die Stadt. Seltsam hell. Das Licht, das in schrägen Bahnen die Straßenschluchten erleuchtet und den Menschen dunkle Schweißflecken auf die Kleidung malt, passt nicht. Es passt nicht zu dem kargen, trostlosen Raum, in dem ich sitze. Nicht zu meinem Gesicht, das leicht von den Tränen glänzt und nicht zu meinen Augen, die nur noch eine Ahnung von Schminke umgibt. Der Rest der Tusche und des Lidstiftes hat das feuchte Tuch aufgesogen, mit dem ich mir hastig die verlaufene Schminke auf dem Gesicht gewischt habe. Ich überschlage die Beine und wende den Blick ab vom gezeichneten Fenster und dem hellen Leben urbaner Großstadt-Menschen in der Welt da draußen. Ich sehe, dass meine Strumpfhose ein Loch hat, nicht groß, aber doch groß genug, um einem ins Auge zu springen. Gedankenverloren fahre ich mit meinem Nagel am Rand des Loches entlang und spüre die dünne Linie meiner geschichteten Hornhaut auf meinem Schenkel.



Gemeinsames Interesse. Immer, wenn an einem Ort mehrere Menschen zusammen finden, wird aus den Individuen für temporär begrenzte Zeit ein Wir mit gemeinsamem Interesse. Wie hier. Ein Junge mit Druckverband am Oberarm. Eine Rentnerin, die in der Gala blättert und ihre Krücken neben sich abgestellt hat. Oder das Pärchen, das schweigend sein Leben lebt und darauf wartet, aufgerufen zu werden. Oder ich, ein namenloses Geschöpf in einer namenlosen Großstadt. Ein Mädchen mit Loch in der Strumpfhose und geröteten Augen.



Ich bin nicht alleine gekommen. Das Leben ist in mir. Der Ursprung allen Lebens. Mitgeteilt wird einem das nicht mit einem großen Knall, sondern ganz leise. Ein geräuschloser winziger senkrechter Strich auf einem Apotheken-Test. Du trägst jetzt Leben in dir, hat er mir auf dem WG-Klo zugeflüstert. Die Minuten danach seltsam seltsam. Ich saß da, betrachtete die Karikatur, die jemand an die Wand gekritzelt hatte und wartete darauf, etwas zu fühlen. Bis heute. Ich wurde gefühlt und habe nicht selbst empfunden.



 Das Licht schwindet, eine Wolke hat den Kampf gegen die Sonne gewonnen und verdunkelt das Zimmer. Wie symbolisch. Mir kommt es plötzlich in den Sinn. Zwischen sterilem Geruch, einem Blick auf die Uhr und der leichten Übelkeit. Seine Zahnlücke. Winzig, fast unscheinbar zwischen seinen Schneidezähnen. Wir haben im Licht gelebt, hatten nachdem der Rotwein an der Wand getrocknet war, Sex. Jedes Mal. Leidenschaftlich und zeit- und raumlos. Er wusste, was er tat, hatte das schon oft gemacht. Geborgenheit danach. Die Erfüllung meiner Sehnsüchte – das waren diese kurzen Momente der Wärme. Wenn er mit seinem Zeigefinger leicht meine blasse Schulter touchierte oder eine meiner Strähnen zwischen seinen Fingern zerrieb. Dann wieder ein Orkan. Streit, Schreie, Türen knallen. Ist das Liebe, das Aufreiben aneinander, die Wechselwirkung zwischen den anstrengendsten Formen des Miteinanders? Der zentrale Antagonismus der Symbiose?



Als ich diese Zahnlücke, diese Augen, diesen Mann das erste Mal sah, hatte ich nackte Füße und von Rotwein gefärbte Lippen. Er wirkte in sich ruhend, fast stoisch. Dann kam er auf mich zu. Zu unserem Feuer mit der bläulichen Glut.



Und später, längst war sein Wesen in meines wie ein trojanisches Pferd der Sinne eingedrungen, wusste ich, dass ich eine Vision mit ihm haben könnte. Die Mücken tanzten über uns, Betrunkene sangen sich die Seele aus dem Leib und der Fluss rauschte und gab uns einen Soundtrack. Als er mich sanft küsste, war mein Kopf frei. Wir waren so jung, so gut, so rein. Es war Sommer, die Bäume tanzten, die Nacht flüsterte und die Gesprächen waren klar und verrückt. Es war ein Sommer, in dessen Zentrum man fast meinte, die Silhouette von Jack Kerouac und seinem gierigen Verwandten der Gedanken, Neal Cassady, im Licht unter den Linden sehen zu können.



Das Doktrin unseres Seins war das Leben und nicht all der blödsinnige Quatsch, den die Erwachsenen Peter Pan und seinen Freunden immer wieder als Verantwortung propagieren.



Ich löse mich von der süßen Luft am Fluss an den Linden. Vorbei der wahnsinnige Sommer mit seinen Einflüssen, die sich tief in mein Bewusstsein gegraben haben. Da sind keine tanzenden Mücken, da ist kein Gesang, da ist nicht dieses Licht. Da ist ein Krankenhaus. Vom verliebten Mädchen, das dem Mann mit der Zahnlücke verfallen ist, ist nicht mehr übrig, als die Farbe der Augen, deren Leuchten eine Vorsichtigkeit ersetzt hat, als deren Antagonist Peter Pan Teil unseres kulturellen Gedächtnisses ist. Ich will nicht, dass ein Kind ohne Magie lebt. Ich will nicht, dass ein Kind zwar einen Vater mit Zahnlücke und versiertem Oral-Sex-Repertoire hat, dafür aber keinen, der es in die Luft wirft und wieder fängt – egal, wohin der Wind den kleinen Korpus treibt. Zwischen uns sei Wahrheit, flüsterte er irgendwo zwischen seinem Philosophie-Master und treibenden Fackeln im Strom unserer gemeinsamen Erinnerung. Geblieben ist ein Mädchen, das statt nackten, entdeckenden Füßen Gewichte an ihren Beinen trägt – und das die Wahrheit nicht mehr finden kann.



Peter Pan ist tot, hinfort das Nimmerland, dessen Grenzen am Horizont verschwinden und mir brutal klar machen, dass nicht Kapitän Hook es mir genommen hat, sondern ich selbst.



Ich stelle mit vor, wie das Kind, das gerade in mir entsteht, seine Augen bekommt. Oder meine Haut. Aber deswegen bin ich nicht hier. Es geht um Abschied, um Loslassen. Eine Frau in meiner Familie ohne Vater ist genug, ein Mädchen ohne Sonntagmorgen im Elternbett ist genug. Bin ich fair? Hat er ein Recht darauf, es zu erfahren? Womöglich eine Entscheidung zu treffen? Ich denke an Onkel Wismuth. An seine Zigarillos und an seine tiefe Stimme. Vielleicht würde mir seine Reinkarantion entweichen und dem Leben genau so wild entgegenstürmen wie er. Ich will aufstehen und weg rennen. Rennen, rennen, rennen. Bis ans Meer. Und dann will ich schwimmen. Ich will ans Ende der Welt und dann einfach verschwinden. Weg von dieser Erde. Blöder Kepler!



Ich höre meinen Namen, stehe auf und gehe einen hellen Gang entlang. Die Türen sind beschriftet und ich frage mich, warum man die Wände von Krankenhäusern nicht in bunten Farben streicht, sondern in steriler Einheit, die ich irgendwo zwischen DDR und CIA verorte. Ich atme, denke an die Wolke, die die Sonne verdunkelt hat, denke an eine Zahnlücke und an mich liebkosende Hände.



Als ich den Raum betrete ein Blitz, eine kurze Vision: Ein Mädchen mit seinen Augen und meiner Haut. Es sieht traurig aus. Ich will es erreichen und in den Arm nehmen. Aber ich komme nicht heran. Es entgleitet mir unter meinen hilflosen Schreien. Ich merke, dass es stirbt. Das Leben weicht aus dem Mädchen. Meine Tochter ist tot. Ich habe sie umgebracht. Kann Leben denn Gift sein? Sie jetzt töten oder mich mit ihr vergiften – ich erschaudere, als ich die Grausamkeit des Homo Sapiens in meinen Gedankenkonstrukten, die ich als ihr Architekt erschaffe, spüre. Dann trete ich ein. Ein Mann mit weißem Kittel empfängt mich mit einem breiten Lächeln. Wie ein Henker. Die Wolke zieht weiter und das Zimmer wird wieder hell. Klar werden all die Zeichen im Fensterglas. Wie Narben. Und genau das werde ich als Souvenir meiner einsamen Entscheidung mit in den Rest meines Lebens nehmen.

Bis ans Ende der Zeit. Eine Narbe. So oder so.  

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: