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Hallo Netz! Bin schwul!

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Erst mal ist alles wie immer: Wie ein Steh-auf-Männchen springt Manniac mit seinen stacheligen blauen Haaren ins Bild und begrüßt seine Fans mit einem breiten Grinsen. Er spricht wie ein geübter Moderator, deutlich und bedacht. Aber statt wie sonst von seinem letzten Urlaub zu erzählen oder ein lustiges Erklärvideo über Kondome zu kommentieren, sagt er diesmal ganz nüchtern: „Ich bin schwul.“ Dann macht er noch ein bisschen Quatsch und bläst unter Konfettiregen in eine Papiertröte.

Für treue Manniac-Fans dürfte diese „Coming-out-Story“ eigentlich keine große Überraschung gewesen sein. In früheren Videos hatte der Youtuber schon öfter angedeutet, dass er schwul ist. Warum er es trotzdem noch mal offiziell gemacht hat? „Ich habe in meinen Videos immer ganz selbstverständlich Typen eingeblendet, die ich heiß finde. Oft kamen dann so Kommentare wie ‚Häh? Verstehe ich nicht, bist du schwul?‘. Das hat mich irgendwann so genervt, dass ich das ein für alle Mal klarstellen wollte.“

Wenn es gut für ihn läuft, schauen sich mehr als eine Million Menschen die Videos auf seinem Youtube-Kanal Manniacs Life an. Für seine aufwendigen und humorvollen Clips hat er schon verschiedene Preise gewonnen. Über seine Coming-out-Story zerbrach Manniac sich besonders lange den Kopf: „Bei diesem Video war mein Anspruch extrem hoch, weil mir das Thema wirklich am Herzen liegt. Es musste besonders gut werden.“   Manniac ist nicht der erste Youtuber, der die Plattform zu diesem Zweck nutzt. Coming-out-Videos sind schon fast zu einem eigenen Genre geworden. Wenige Wochen vor Manniacs Coming-out ging ein Video der deutschen Youtuberin Melina Sophie mit dreieinhalb Millionen Klicks viral – sie sagt ihren Zuschauern darin, dass sie lesbisch ist. Es folgten viele Videos von Fans, die es ihr gleichtaten.

Angefangen hat das Ganze in den USA: Nachdem die gleichgeschlechtliche Ehe dort im vergangenen Sommer landesweit legalisiert wurde, schwappte eine weltweite Regenbogen-Euphorie durchs Netz und über die Facebook-Profilbilder. „Homosexualität ist ein bisschen sichtbarer geworden“, sagt Manniac. „Mit der wachsenden Solidarität im Netz trauen sich auch immer mehr Leute, sich online zu outen.“  

Zwanzig Millionen Menschen sahen sich das Coming-out der Zwillingsbrüder aus Ohio an

Besonders beliebt sind in den USA die sogenannten Live-Coming-outs: Youtube-Stars filmen, wie sie sich vor Familienmitgliedern und Freunden bekennen, und stellen die Videos danach online. Im Vergleich zu den Rhodes Bros wirken Manniacs Zuschauerzahlen fast ein bisschen mickrig: Mehr als zwanzig Millionen Menschen haben sich bisher angeschaut, wie die Zwillingsbrüder aus Ohio ihrem Vater am Telefon erklären, dass sie beide schwul sind.

Die Präsenz des Themas hält Johannes Wahala für einen Fortschritt. Wahala ist Psychotherapeut und Leiter der Wiener Beratungsstelle Courage für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen. In seinem Job hat er täglich mit jungen Menschen zu tun, die wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden und in ihrem sozialen Umfeld kein Verständnis finden. Für diese Menschen sei das Internet innerhalb der vergangenen zehn Jahre eine große Befreiung gewesen: „Youtube-Videos und Online-Foren sind oft der einzige Ort, an dem gleichgeschlechtlich orientierte Jugendliche erste Informationen über ihre Sexualität suchen und Vertrauenspersonen finden. Virtuelle Räume sind genauso wichtig, wie die Alltagserfahrungen der Betroffenen. Sie helfen besonders jungen Leuten, ihre Sexualität zu akzeptieren.“

Unter dem Video von Melina Sophie schwanken die Kommentare zwischen Zuspruch, dem Vorwurf, sie würde sich „nur für die Klicks“ outen, und üblen Beleidigungen.

Youtube spaltet die Generationen, sagt Wahala. „Ich habe eine sechzigjährige Transgenderfrau kennengelernt, die sich in ihren ersten vierzig Lebensjahren nur als ‚krank‘ wahrgenommen hat. Einfach, weil ihre Umwelt ihr das gespiegelt hat und es nirgendwo andere Vorbilder gab. Die Transgender-Jugendlichen von heute setzen sich an den Laptop und finden alles, wovon diese Frau nicht mal träumen konnte. Sogar Hormone lassen sich mittlerweile online bestellen.“ In Chatrooms, Beratungsforen oder auf Dating-Seiten suchen sich die Jugendlichen ihre Informationen selbst zusammen. Ein öffentliches Coming-out werde dadurch aber nicht leichter, sagt Wahala.

„Coming-out“ kommt von „coming out of the closet“, bedeutet also „aus dem Schrank herauskommen“. Das suggeriert ein Befreiungsgefühl, das auch viele schwule und lesbische Jugendliche in ihren Videos beschreiben. „Als ich mir zum ersten Mal eingestanden habe, dass ich schwul bin, war das schon ein erstes Coming-out mir selbst gegenüber und eine große Erleichterung“, sagt Manniac. „Sich auch vor seiner Umwelt nicht mehr zu verstecken, ist dann der nächste Schritt und mindestens genauso schwierig.“ Auch Wahala berichtet von Klienten, die nach wie vor lieber „im Schrank“ leben, aus Angst, von der eigenen Familie und den Freunden nicht verstanden oder verurteilt zu werden. Besonders in ländlichen Regionen sei das Coming-out nach wie vor ein Tabu-Thema.

Aber was passiert, wenn junge Menschen nicht „aus dem Schrank kommen“? Eine psychologische Studie von 2009 belegt, dass die Selbstmordrate bei homosexuellen Jugendlichen fünf bis acht Mal so hoch ist wie bei Heterosexuellen im gleichen Alter. Auch die Youtube-Stars berichten von mangelndem Verständnis aus dem eigenen Umfeld und von Mobbing bis hin zu körperlicher Gewalt. Sie haben für diese Erfahrungen ein eigenes Therapieformat gefunden: die Abrechnung mit den ehemaligen Mobbern per Anruf. Und vor laufender Kamera, natürlich. Solche Aktionen werden von den Fans gefeiert und bringen den Youtubern Klicks im fünfstelligen Bereich.

Manniac war sich sicher, dass seine Fangemeinde das Coming-out-Video positiv auffassen würde: „Der Großteil der Zuschauer hat sehr solidarisch reagiert. Echten Fans ist meine Sexualität eben egal. Die fragen sich eher, wie ich meine Haare so hinkriege.“ Ein paar, die es nicht glauben wollten, hätten noch ein zweites Mal nachgefragt, aber alles in allem sei das Netz sehr nett gewesen. „Vielleicht lag es daran, dass meine Fans das schon so halb wussten. Aber erst mal erfordert ein Online-Outing viel Mut. Man macht sich verletzbar und das vor einer sehr großen und unkontrollierbaren Öffentlichkeit.“  

Die Videos ermutigen Zuschauer zum Coming-out. Einige haben danach Probleme mit der Familie

Bei anderen Youtubern sieht die Kommentarlandschaft teils weniger freundlich aus als bei Manniac. Unter dem Video von Melina Sophie zum Beispiel schwanken die Beiträge zwischen Zuspruch, dem Vorwurf, sie würde sich „nur für die Klicks“ outen, und üblen Beleidigungen. Kein Wunder, dass die meisten Youtube-Outings von Leuten stammen, denen bereits eine feste Fangemeinde den Rücken stärkt.

„Wer sich selbst noch sehr unsicher mit seiner Sexualität ist, wird sicher nicht gleich ein Video hochladen“, sagt auch Wahala. Die Nachrichten, die Manniac nach seinem Beitrag erhielt, zeigen deutlich, dass ein Outing im privaten Umfeld schon schwer genug sein kann: „Nach deinem Video habe ich mich auch endlich getraut, aber ich wurde von zu Hause rausgeschmissen“, schrieb ein Fan, „Ich werde jetzt von meinen Mitschülern gemobbt“, ein anderer.  Für Manniac erübrigt sich damit die Frage, ob ein Coming-out heutzutage überhaupt noch nötig ist: „Die Nachrichten und Reaktionen meiner Zuschauer zeigen, dass Homosexualität noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, auch nicht im Netz. Und solange ich nicht von einem Typen schwärmen kann, ohne dass die typischen ‚Häh?‘-Kommentare auftauchen, wird es weitere Outing-Videos auf Youtube geben müssen.“ Manniac hofft, dass sein Video andere bestärkt und ermutigt, ebenfalls zu ihrer Sexualität zu stehen. „Außerdem hilft so ein Online-Outing bei der Partnersuche“, sagt er und lacht.

Text: eva-hoffmann

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