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Der Baum

Text: fraeulein_imke

Da ist dieser Baum vor meinem Fenster



Sind es nur für mich reale Gespenster?



Die Blätter, die ich fallen seh’



Eins nach dem anderen löst seinen Zeh



Sie leuchten überheblich in ihren schönsten Farben



Rot, orange, einige grün, seltsame Gaben.



Was bedeutet Glück auf dieser Welt



Wenn ein gefärbtes Blatt zu Boden fällt?



 



Ich sitze in meinem Wohnzimmer und schreibe ein Gedicht über den herbstbunten Baum vor meinem Fenster. Wie armselig ist das denn bitte? Ich beobachte ihn schon so lange, dass bald meine eigenen Blätter fallen müssten. Ich habe alles in meiner Umgebung genau inspiziert, die Tauben, die Nachbarn, die Bauarbeiter. Nichts passiert.



Es wird langsam dunkel. Das hat der Herbst ja so an sich, dass er nach der Dunkelheit greift und zu sich zieht und nicht mehr loslässt. Die Dunkelheit ist Gefangene und ich habe mal wieder viel Zeit zum Nachdenken. Super, genau das was ich brauche. Mein Kopf bestraft mich mit Gedanken an meine Zukunft. Dieses grässliche, unüberwindbare Wort: Z U K U N F T. Geh weg, geeeh weg!!! Ich hasse dich! Nachdenken, nachdenken, ich guck lieber noch ein paar YouTube-Videos, das lenkt ab. 3 Stunden und 57 Kätzchen-, Auf-die-Fresse-Fall-, und Joko und Klaas-Videos später und ich bin immer noch nicht weiter. Wie auch? Es ist immer noch dunkel.



Ich könnte Bewerbungen schreiben. Könnte ich wirklich, mein PC ist noch an, Word habe ich auch drauf, müsste mich einfach nur hinsetzen, meine Finger auf die Tastatur legen und auf die richtigen Tasten schieben, runterdrücken, eine Taste nach der anderen. Wirklich Bock habe ich nicht. Außerdem bekomme ich davon immer Kopfschmerzen.



Stattdessen könnte ich aufräumen. Aufräumen ist immer gut. Kurzzeitig motiviert bringe ich die Wodkaflasche zum Flaschen-Sammel-Pappkarton im Flur, ich räume die  beschmierten Gläser in die Küche, leere den gläsernen Aschenbecher aus. Dann räume ich einige Lebensmittel in den Schrank, dabei finde ich einen Joint. Seit dem Pflichtbesuch meiner Eltern steckt er hier im Schrank hinter der Konservendose mit den gehackten Tomaten, ich hatte ihn komplett vergessen.



Ich setze mich auf das Sofa und zünde mein Fundstück an. Nach einem tiefen, durchdringenden Zug geht es mir besser. Ich lehne mich zurück und genieße, wie der Rauch bis in die hintersten Lungenbläschen vordringt, auch den letzten Winkel meiner Lunge ausfüllt, wie ein kräftiger Windstoß, der die Segel eines Schiffs zum Stehen bringt. Lang ersehnte Entspannung macht sich in mir breit. Ich fahre wieder. Und mein Leben, das ist doch gar nicht so schlimm. Noch ein kräftiger Zug – und die nächsten Stunden gehören den Einhörnern, die im hellen rosafarbenen Himmel fliegen.



Die Dunkelheit ist auf einmal wieder da. Moment, wo sind meine Einhörner? Ich blicke suchend in Richtung Zimmerdecke, doch oben sind nur staubige Spinnenweben und die vergilbte Tapete. Irgendwas verdammt Schweres lastet auf mir. Ich fühle mich, als würden sehr viele Backsteine auf mir liegen, die roten, mit denen hier alle Häuser gebaut werden. Nein, noch schwerer, eher wie ein großer Feldstein. Vielleicht noch schwerer. Eher so schwer wie der alte Schwede, dieser riesige Findling am Elbstrand. Der liegt auf mir drauf, ich kann absolut nichts machen. Ich habe das Gefühl, er erdrückt mich. Langsam, ganz langsam werde ich zerquetscht. Ich würge. Wo bin ich eigentlich? Kann es eigentlich noch dunkler als dunkel werden? Ich vegetiere vor mich hin. Bin ich in der Hölle? Nein, Moment, nicht Hölle sondern Himmel. Der ist doch rosafarben.



Heißt es nicht: „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von fern ein Lichtlein her?“ Wo ist das Scheiß-Licht? Ich bin bereit, das Licht kann kommen! Liiiicht? Liiiiiiiiiiiicht? Halllooooo? Kein Licht? Na gut, dann eben nicht.



Ich fühle mich insgesamt nicht so gut. Jetzt ein Einhorn sein, das wäre schön. Bleib immer du selber, außer du kannst ein Einhorn sein. Dann sei ein Einhorn, oder so ähnlich. Wieso nicht? Eins, das über rosa Wolken fliegt und den Regenbogen herunterrutscht. In einem Candy-Sky. Ich merke, dass alles nass um mich herum ist. Mein Mund steht offen, ich habe gesabbert. Ich will etwas zum Aufwischen holen. Mein Einhorn stürzt ab. Ich liege auf dem Teppich vor meinem Couchtisch, ich sehe, dass es draußen bereits dämmert. Ein rosafarberner Streif ist zu sehen. Irgendwann gleite ich in einen unruhigen Schlaf.



Als ich aufwache, ist es hell. Ich erblicke den Baum vor meinem Fenster. Er hat alle Blätter verloren.



 






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