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„Wir könnten alle jederzeit ein Trauma erleben“

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 Ein Mädchen auf der griechischen Insel Lesbos. Sie kam mit anderen Flüchtlingen auf einem Schlauchboot von der Türkei. 

Viele Menschen, die gerade vor Krieg und Gewalt fliehen, haben in der neuen Heimat mit posttraumatischen Folgen dieser Flucht zu kämpfen. Im Interview erklärt die Wiener Traumtherapeutin und Psychotherapeutin Erika Schedler, was solche Erfahrungen mit jungen Menschen machen - und wie sich das Trauma der Flucht auf unsere Gesellschaft auswirken wird.

jetzt.de: Was meinen Sie als Psychotherapeutin, wenn Sie von „Trauma“ sprechen?  
Erika Schedler: Trauma ist in jeder Hinsicht ein überwältigendes Erlebnis. Es entsteht in Situationen, in denen wir einer Bedrohung, einer Verletzung oder einer Katastrophe ausgesetzt sind, die unser Nervensystem überfordert. Das passiert, wenn dieses Erlebnis zu heftig, zu schmerzhaft, zu beängstigend oder zu beschämend ist. Zum Beispiel bei einem Unfall, Gewalterfahrungen, Naturkatastrophen, Vernachlässigung im Kindesalter und eben auch Krieg und Flucht. Dieses Gefühl völliger Hilflosigkeit führt zu einer tiefen Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Die Welt ist nach einem Trauma kein sicherer Ort mehr, an dem wir uns lebendig und geborgen fühlen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


                                                         Erika Schedler

In der Flüchtlingsdebatte fällt die Bezeichnung „Trauma“ momentan sehr oft.
Ja, stimmt. Man muss bedenken, dass diese Menschen, die gerade fliehen, meistens die ganze Palette an traumatisierenden Gefühlen und Umständen erlebt haben: Todesangst, Hungern, Frieren. Sie mussten zusehen, wie andere erdrückt werden oder ertrinken, wie Kinder sterben und vieles mehr, das wir uns kaum vorstellen können. Man kann davon ausgehen, dass da niemand ohne körperlichen und seelischen Schaden davonkommt. Aber nicht jeder seelische Schaden muss ein Trauma sein.

Oft wird suggeriert, dass alle Menschen, die auf der Flucht sind, zwangsläufig auch traumatisiert sind.
Solche verallgemeinernden Aussagen finde ich eher platt. Trauma ist kein Stigma, denn es entstand durch Fremdeinwirkung, mit einer ungeheuren Wucht, das kann leider jedem von uns passieren. Dass ein Krieg und eine lebensgefährliche Flucht traumatisierend sind, liegt zwar auf der Hand, man sollte aber die Menschen mit ihren eigenen Fähigkeiten und Ressourcen wertschätzen und im Einzelfall abschätzen: In welchen Maße ist diese Person als Individuum traumatisiert?

Sie meinen, manche Menschen sind anfälliger für Traumata als andere?
Ja, Menschen, die alleine fliehen und vielleicht auch noch minderjährig sind, werden wahrscheinlich traumatisierter sein als ganze Familien, die einander während der Flucht eng beiseitestehen können. Menschen, die in ihrem Leben vorher schon mehrere traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, werden wahrscheinlich betroffener sein als andere, deren Leben stabil abgelaufen ist. Nicht alle schweren Belastungen führen zu einer Traumatisierung. Zum einen sind Menschen unterschiedlich belastbar, zum anderen sind die Lebensumstände unmittelbar nach der traumatischen Situation entscheidend dafür, ob ein Trauma spontan verheilen kann oder nicht.

Wie helfen Sie als Traumatherapeutin dabei?
Ich begegne Menschen, die Schreckliches durchmachen mussten. Klar fühle ich da erst mal als Mensch mit. Als Fachfrau versuche ich, die Lebensgeschichte meiner Klienten so gut wie möglich zu verstehen, um für den Betroffenen den individuellen Weg zurück in die Normalität zu finden. Dazu gehört es auch, gemeinsam zu lachen. Das hilft, das Unverständnis für die eigenen Gefühle und Verhaltensweisen zu bewältigen und nimmt die Schwere, die jedes Trauma begleitet.

Wie beeinflusst das den Alltag?
Das ist ganz unterschiedlich. Die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung können gleich danach oder zeitlich verzögert auftreten. In vielen Fällen vergehen Jahrzehnte bis zum Auftreten der Symptomatik. So drängt sich ein Trauma auf ganz verschiedene Weise in den Alltag. Es kann durch Erinnerung, Flashbacks und Albträume wiedererlebt werden. Oder der Betroffene blendet es komplett aus und vermeidet Orte und Situationen, die schlimme Erinnerungen wachrufen könnten. Traumatisierte Menschen leiden oft auch an Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten, sind besonders wachsam oder übertrieben vorsichtig. Oft ist es schwierig, unter diesen Umständen die erforderlichen Leistungen im Berufsleben zu bringen oder sich auf neue soziale Kontakte einzulassen.

Ist das für junge Menschen leichter?
Ich glaube schon, dass da ein Wandel stattgefunden hat: Junge Menschen gehen mit Problemen und Traumata selbstbewusster um als ältere Generationen. Diejenigen, die schon früh gezielt professionelle Unterstützung einholen, profitieren davon langfristig, denn in der Therapie werden Problemlösungsstrategien erlernt, die sie für ihr ganzes Leben brauchen können.

Wie wird eine Gesellschaft beeinflusst, die Tausende Menschen mit traumatischen Erfahrungen aufnimmt?
Es kommen sicherlich neue Aufgaben auf uns zu, denn die Langzeitfolgen einer Katastrophe dieses Ausmaßes werden in mehreren Ebenen sichtbar werden: in den Arzt- und Therapiepraxen, in den Kindergärten und Schulen und im Beruf. Die Betroffenen werden wahrscheinlich Schwierigkeiten haben im Kontakt mit anderen Menschen, sie werden vielleicht oft abwesend wirken, werden sich nicht immer konzentrieren können und ihre Traurigkeit ist nicht immer kontrollierbar. Depressionen und Aggressionen werden vermehrt Thema sein, aber auch die Freude und Energie, zu leben und einen Neuanfang beginnen zu dürfen. Missverständnisse sind normal, aber es liegt an uns, ein neues und sicheres Umfeld zu schaffen, in dem keine weiteren Traumatisierungen stattfinden.

Wie kann dieser Neuanfang erleichtert werden?
Es ist hilfreich, sich vor Augen zu halten, dass uns all das genauso passieren könnte: Wir könnten von einem Tag auf den anderen durch eine höhere Macht plötzlich alles verlieren und flüchten, um unsere Leben zu retten. Ich finde, dass es wichtig ist, diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu stabilisieren, damit ihr Stresssystem heruntergefahren werden kann. Positive Begegnungen sind dafür sehr wichtig, sie rufen gute Erinnerungen an eine Zeit hervor, als die Welt noch in Ordnung war. Nur so kann das Vertrauen in die Welt und die Menschheit wieder hergestellt werden. Manchmal reicht eine freundliche Begegnung als Mitmensch, eine nette Geste, um bereits eine kleine Heilung zu bewirken.

Kann ein Trauma überwunden werden?
Auf jeden Fall. Es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange die Verarbeitung dauert. Manchmal reichen gute Freunde, mit denen man über alles reden kann und Verständnis bekommt, mit schlimmen Erinnerungen fertig zu werden; manchmal ist es aber sinnvoll, sich professionelle Unterstützung zu holen. Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch innerlich bereit ist, sich damit auseinander zu setzen und das neue Umfeld ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, sodass keine weiteren Traumatisierungen stattfinden.

Text: eva-hoffmann - Fotos: oh & dpa

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