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Im Reich des Bösen

Text: Jahre

Als Charlotte Josefs ihre Augen öffnete, fand sie sich in einem Kleingarten wieder, ohne zu wissen, wie sie hierher gelangt war. Mit großen Schmerzen in all ihren Körperteilen versuchte sie sich zu bewegen, was ihr allerdings schwerfiel. Es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, um aufzustehen und sich umzusehen. Allmählich gewöhnte sie sich an die Schmerzen, ohne dass sie nachgelassen hätten. Sie blickte um sich und erkannte ein kleines Fenster, durch das ein wenig Licht von der hinter einer dichten Wolkendecke befindlichen Sonne ins Haus gelangte und die zahlreichen auf dem Boden liegenden Gegenstände beleuchtete. Ein über dreißig Jahre alter Kalender, diverse Gebrauchsgegenstände, Scherben und Papiere befanden sich verstreut in der Hütte, als wäre diese vor langer Zeit sich selbst überlassen worden. Charlotte verstand nicht, wo sie war und warum sie hier war, wurde allerdings mit starken Kopfschmerzen konfrontiert, wenn sie darüber nachzudenken begann. Daher ließ sie das sein und trat vor die Tür. Draußen fand sie eine Reihe weiterer Gartenhäuser vor, die ebenso verwahrlost wirkten wie jenes, aus dem sie getreten war. Um diese Gartenkolonie herum befand sich ein Wald aus kahlen, toten, aber hoch gewachsenen Bäumen, die den Eindruck erweckten, Charlotte bei jedem Schritt zu beobachten. Der Boden bestand aus toter Erde, auf der vor geraumer Zeit möglicherweise Gras oder Blumen gewachsen waren. Blickte Charlotte in den Himmel, so vermochte sie weniger eine Wolken- als eine Betondecke zu erkennen. Es wehte kein Wind und es regnete auch nicht.



Ein wenig ratlos setzte sie sich auf den Boden und versuchte sich an den letzten Moment zu erinnern, den sie erlebt hatte, ehe sie im Kleingarten aufgewacht war. Je länger sie das tat, desto mehr gewöhnte sie sich auch an die Kopfschmerzen, was ihr das Vorhaben erleichterte. Sie meinte sich daran erinnern zu können, auf einem Motorrad eine Landstraße befahren zu haben, ehe das Gedächtnis streikte. Da es keinen Grund gab, länger sitzen zu bleiben, stand sie auf und erkundete eine Weile die Gartenkolonie, ohne daraus nennenswerte Erkenntnisse ziehen zu können. Beim Anblick der toten Bäume, die die Anlage umringten, bekam sie zwar ein diffuses Angstgefühl, beschloss allerdings dabei, den Wald zu durchschreiten, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden. Je näher sie ihm kam, desto stärker wurde ihr Puls, desto größer wurde die Gewissheit, es hier mit einem Hort des Bösen zu tun zu haben, was sie allerdings nicht davon abhielt, ihn zu betreten. Dabei stellte sie fest, dass in jeden Baumstamm Löcher eingestampft waren, die ein Gesicht aus Augen, Nase und Mund bildeten, das einen in einer Mixtur aus Leblosigkeit und Debilität anstarrte.



„Du bist ja gar kein Baum“, rief ihr eine leise Stimme entgegen, die sie nicht verorten konnte.



„Wer spricht da?“ fragte Charlotte um sich blickend. Erste Schweißperlen liefen ihr das Gesicht hinab. Ihr Herz klopfte. Sie war mittlerweile tief genug in den Wald gedrungen, um kaum noch das Licht von der Betondecke wahrnehmen zu können.



„Du musst ein Baum werden.“



„Das verstehe ich nicht.“



„Nun werde doch endlich zum Baum!“



„Wozu? Ich will kein Baum werden. Ich will nachhause.“



„Du bist zuhause. Du musst nur noch ein Baum werden.“



Charlotte zögerte kurz. Sie blickte um sich und kratzte sich dabei am Kopf.



„Wo bin ich?“



„Im Reich des Bösen“, antwortete die Stimme.



„Im Reich des Bösen? Wie komme ich hierher?“ fragte Charlotte entsetzt. Ihr Gesichtsausdruck verzerrte sich und ihr Atem wurde immer schneller und heftiger.



„Du bist gestorben und man hat dich ausgewiesen. Nun bist du im Reich des Bösen und musst ein Baum werden, wie jeder, der abgeschoben wird.“



Charlotte dachte kurz nach und blickte abermals in alle Richtungen.



„Bist du ein Baum?“



„Ja.“



Charlotte erblickte einen Baum, von dem sie annahm, dass er zu ihr sprach. Vorsichtig trat sie auf ihn zu und tastete ihn ab.



„Und du bist böse“, schlussfolgerte sie.



„Ja“, antwortete der Baum, ohne sein totes Gesicht zu bewegen.



„Warum?“



„Ich habe vergifteten Zuckersaft an Katzensäuglinge verkauft. Man hat mich ausgewiesen und ich wurde zum Baum.“



„Ich könnte mich aber nicht daran erinnern, selbst etwas Böses getan zu haben“, antwortete Charlotte mit zittriger Stimme, „Ich habe mich doch immer an die Gesetze und Sitten gehalten.“



„Vielleicht hast auch du vergifteten Zuckersaft verkauft.“



„Nein“, sagte Charlotte kopfschüttelnd, die von Ton zu Ton immer bestimmter wurde, „Nein, unter Garantie nicht. Ich bin nicht böse.“



„Das denken die meisten, die zu Bäumen werden.“



Charlotte entfernte sich wenige Meter vom Baum und blickte erneut eine Weile orientierungslos um sich.



„Wie gelange ich wieder in die Republik der Guten?“



„Gar nicht. Du musst zum Baum werden. Einen Weg in die Republik gibt es nicht.“



„Es muss doch die Möglichkeit geben, wiedergeboren zu werden“, erwiderte Charlotte empört.



„Werde wie ich zu einem Baum.“



„Und dann?“



„Dann bist du wie ich ein Baum.“



„Und welchen Nutzen könnte ich daraus ziehen?“



„Gar keinen. Es geht darum, auf ewig zu leiden. Und das geht nur als toter Baum mit einem toten Gesicht.“



„An ewigem Leiden bin ich aber nicht interessiert“, sagte Charlotte und rannte trotz aller körperlichen Schmerzen davon. Je tiefer sie in den Wald drang, desto dichter und lichtundurchlässiger wurde er, bis sie nach einer Weile erkennen musste, dass sie sich im gähnenden Nichts befand, wo sich kein Licht befand und sie keine Bäume mehr erkennen konnte. Sie blickte ziellos um sich und entdeckte steil über ihren Kopf einen winzigen Lichtpunkt, auf den sie nun zueilte, gleich als ob sie eine Wand hinauflaufen würde, was ihr allerdings keinerlei Probleme bereitete. Der Lichtpunkt wurde immer größer und heller. Als sie ihn schließlich erreichte, entpuppte er sich als Eingang in eine Behörde. Sie betrat eine riesige Halle, auf der sich zahlreiche Personen befanden, die zu großen Teilen offenkundig böse waren. Manche trugen Kettensägen oder diverse Folterinstrumente mit sich und fletschten mit den Zähnen. Charlotte zog eine Nummer, setzte sich hin und wartete, bis sie aufgerufen wurde, worauf sie eines der Büros betrat, die sich der Halle anschlossen. Am Tisch saß ein Baum, der ebenfalls ein aus eingestampften Löchern bestehendes Gesicht aufwies wie seine Artgenossen aus dem Wald. Von diesem ging eine Stimme aus, die Charlotte begrüßte und dazu aufforderte, sich an den Tisch zu setzen. Auf diesem befanden sich ein Rechner und diverse Aktenpapiere, wobei unklar blieb, ob ihnen eine sinnvolle Funktion zukam oder sie lediglich einen dekorativen Zweck erfüllten, weil sich der Baum offenkundig weder bewegen noch die Gegenstände betätigen konnte.



„Sie sind also ins Reich des Bösen abgeschoben worden und wollen nun selbst ein Baum werden“, begann der Baum. Charlotte rollte die Augen und stöhnte auf.



„Es handelt sich um einen Irrtum. Ich habe nie etwas Böses getan und möchte daher auch kein Baum werden“, antwortete sie.



„Weshalb sind Sie dann ausgewiesen worden?“



„Wie gesagt: Es handelt sich um einen Irrtum.“



„Einen Moment. Ich schau mal in Ihrer Datei nach. Wie lautet Ihr Name?“



„Charlotte Josefs.“



Etwa eine Minute verging, ohne dass etwas geschah. Der Baum stand regungslos da. Ein kleiner Blick Charlottes über den Tisch brachte in Erfahrung, dass er im Laminatboden angewurzelt war.



„Ah ja, Charlotte Josefs“, begann der Baum, „Sie fielen einem Verkehrsunfall in der Republik zum Opfer und wurden drei Tage darauf feierlich durch Leichenzertrümmerung bestattet, wodurch Sie ins Reich des Bösen ausgewiesen wurden. Es tut mir leid, aber Ihre Abschiebung ist rechtskräftig. Da können wir leider nichts unternehmen. Sie müssen zum Baum werden.“



„Aber es gibt doch auch die Möglichkeit, durch eine Geburt in die Republik einzureisen“, entgegnete Charlotte entrüstet, „Kann ich denn keinen Antrag auf Einreise stellen?“



„Das ist nicht mein Arbeitsgebiet. Dazu müssten Sie die Auswanderungsbehörde des Reiches des Bösen konsultieren. Meine Aufgabe ist es, Sie in einen Baum zu verwandeln.“



„Als Baum kann ich mich doch gar nicht bewegen. Wie sollte ich da jemals in die Auswanderungsbehörde gelangen können?“



„Nutzen Sie Ihre Fantasie, Frau Josefs“, antwortete der böse Baum optimistisch, „Bitte unterschreiben Sie die Ihnen vorliegenden Formulare.“



„Um dadurch zum Baum zu werden? Niemals!“



Charlotte sprang auf und stürzte durch die Bürotür in einen Wald, in dem sich ihre Arme und Haare in Äste und ihre Beine in Wurzeln verwandelten, während sich ihre Augen, ihre Nase und ihr Mund in eingestampfte Löcher umbildeten.



„Aus dem Reich des Bösen gibt es kein Entkommen, Frau Josefs“, merkte der Baumbeamte in ruhiger Stimmlage ab. Regungslos stand sie nun mitten im Wald als ein Baum unter vielen, wobei sie darüber sinnierte, wie sie die Auswanderungsbehörde erreichen könnte.






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