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Angst vor Flüchtlingen?

Text: Fabserix

Liebe besorgte Bürger,



täglich liest man zuhauf Statements die eure Besorgnis über das Wohlergehen der deutschen Bevölkerung zum Ausdruck bringen sollen. Während ich das zu Beginn der Einwanderungsphase noch für eine überstürzte Abwehrreaktion hielt, der ich keine lange Lebensdauer zuschrieb, muss ich nun erkennen, dass auch Monate später noch kein Ende dieser kurzsichtigen Kommentare in Sicht ist. Vorweg will ich sagen: Ich glaube, ich verstehe wo euer Problem begraben liegt. Ihr seht wie ein Staat, der euch seit Jahren mit seiner Politik enttäuscht hat, plötzlich aktiv wird und Geld in die Hand nimmt, sobald ein Asylant kommt und die Hand aufhält. Ihr geht auf die Straße und seht deutsche Menschen perspektivenlos auf der Straße sitzen und fragt euch, wieso für Asylanten Flüchtlingsheime aufgestellt werden, wieso diese Menschen, die doch gar kein Teil der deutschen Oberschicht sind, mit Geld, Essen und einem Dach über den Kopf ausgestattet werden, während es in Deutschland Menschen gibt, die Tagelang hungern müssen um ihre Miete zu zahlen oder einen halben Tag auf der Straße betteln müssen um sich beim nächsten Imbiss ein trockenes Brötchen zu leisten. Für jeden, der nicht in der Lage ist das große Ganze zu sehen mag dies ein erschütternder und ungerechter Anblick sein. Kinder müssen im Zweifelsfall auf ihre Sporthalle verzichten, nur weil ein paar Flüchtlinge auf die Idee kommen, sich dort breit zu machen, statt in ihrer Heimat zu bleiben, wo sie den deutschen Staat nichts kosten. Ihr fühlt euch ungerecht behandelt, vermutlich weil ihr selbst seit Jahren am gefühlten Existenzminimum lebt und seht, wie eure Nachbarn jedes zweite Jahr einen Neuwagen vor der Garage stehen haben und wie in fremden Gärten Pools und Palmen wachsen während ihr auf eurem 3m² Balkon gerade mal genug Platz für einen Kugelgrill und einen Klappstuhl habt. Hinter euch liegen Jahre der Enttäuschung die in diesen schwierigen Zeiten gipfeln. Ihr fühlt euch wohl mit dem RTL-Nachmittagsfernsehen, denn dort seht ihr Menschen, die noch ein bisschen dümmer und noch ein bisschen ärmer sind als ihr. Tag für Tag ergötzt ihr euch an dem Leid anderer indem ihr billiges Essen, billige Kleidung und Kriegsfilme konsumiert und verschwendet keinen Gedanken daran, dass die Menschen, die euch euer Essen und eure Kleidung ermöglichen ein weit weniger luxuriöses Leben führen als ihr es tut. Ihr hattet das große Glück in einem Land aufzuwachsen, in dem die Armutsgrenze noch weit über dem Lebensstandard der dritten Welt Länder liegt und hattet trotzdem das Gefühl, dass ihr weit weniger habt als euch eigentlich zusteht. Und nun ist das eingetreten wovor ihr euch heimlich immer gefürchtet habt: Diese Menschen kommen nach Deutschland um euch das bisschen was ihr habt auch noch wegzunehmen.



Und auch wenn ihr euch selbst vehement gegen den Vorwurf des Rassismus weigert und euch von Nazis und „rechtem Gesocks“ abgrenzen wollt nagt es an euch, dass diese Menschen die nichts mit dem deutschen Brauchtum zu tun haben plötzlich in euer Land einfallen und dort ihre Sitten und ihre Brauchtümer pflegen. Nachrichten aus der BILD sprechen darüber hinaus davon, wie unzufrieden diese Menschen noch mit ihren Notunterkünften sind, davon, dass diese Menschen Anforderungen und Erwartungen an das Land stellen, in dem sie Asyl suchen und zu allem Überfluss haben diese Menschen auch noch mehr als nur das nötigste retten können und besitzen die Frechheit auf deutschen Straßen mit Handys und Smartphones herumzulaufen, statt in Lumpen und vollständig abgemagert wie man das von einem anständigen Flüchtling erwarten würde. Was ihr dabei vergesst ist folgendes: Diese Menschen verließen ihr Land aus Angst. Sie ließen Familie, Zuhause, Freunde und Verwandte zurück in einem letzten Versuch sich selbst vor dem dort herrschenden Terror zu retten. Viele dieser Menschen waren vor dem Krieg studierte Ärzte, Anwälte, Lehrer oder Ingenieure – und haben damit mehr erreicht als die Mehrheit euch besorgter Bürger. Diese Menschen haben auf ihrer Flucht ihre eigenen Kinder sterben sehen, sahen den Überlebenskampf ertrinkender Menschen und wurden schon zuvor mit täglich neuen Bombeneinschlägen an die Vergänglichkeit ihres Lebens erinnert. Diese Menschen kommen nicht nach Deutschland um euch auf der Tasche zu liegen. Diese Menschen kommen auch nicht nach Deutschland, weil ihnen irgendwann einer sagte wie schön doch der Schwarzwald sei. Diese Menschen kommen aus purer Angst vor dem, was in ihrem Land passiert. Um ihre eigene Existenz zu schützen. Klar ist das schwierig zu verstehen, für Menschen die mit fremden Ländern höchstens auf VOX konfrontiert wurden wenn es wieder hieß „Goodbye Deutschland“.



Das schlimmste was dem „Standard-Deutschen“ passiert sind Krankheiten, Todesfälle in der Familie, oder den jährlichen Familienurlaub streichen zu müssen, weil der Tochter eine Exkursion mit der Schule nach Spanien finanziert werden muss. Ich selbst lebte jahrelang am finanziellen Minimum und habe den Staat für seine lumpigen 200€ die mir monatlich an Förderung für mein Studium bewilligt wurden verflucht. Davon musste eine Wohnung, Essen und Trinken und alles worauf man sonst nicht verzichten kann oder will bezahlt werden. Kaum erwähnenswert, dass ich ohne einen Nebenjob und Unterstützung meiner Eltern auf der Straße hätte leben müssen. Sollte ich deswegen auch sauer auf alle Asylanten sein, die jetzt mit einer Notunterkunft und dem nötigsten an Essen und Trinken ausgestattet werden? Sicher nicht. Während diese Menschen zusammengepfercht zu hunderten in einem Raum schlafen müssen, hatte ich ein eigenes Bett, eine eigene Dusche und meinen eigenen Kühlschrank. Während diese Menschen für ihre letzten verbliebenen Habe kritisiert werden, wurde ich mitleidig angeschaut wenn ich mit meinem alten Klapphandy in den Hörsaal kam, weil ich mir eben nicht das neueste iPhone leisten konnte. Offensichtlich hört für die Mehrheit der besorgten Bürger das Menschsein an irgendeiner geographischen Landesgrenze auf. Wenn ein Deutscher nicht dem typischen Lebensstandard in seinem Land entspricht ist das dramatisch und ungerecht. Wenn es ein Ausländer ist, der aus seinem Land fliehen musste und nun in einem fremden Land gerade das nötigste bekommt um zu überleben ist das ebenfalls ungerecht und dramatisch – jedoch in euren Augen nicht für diesen Menschen, sondern für euch. Obwohl ihr keine Rassisten sein wollt seid ihr doch der Meinung, dass man zunächst zusehen sollte, dass es den Deutschen besser geht als dem Rest, ehe man Flüchtlingen blindlings Asyl gewähren darf. Ich will nicht abstreiten, dass mancher Flüchtling von außen betrachtet wohlhabender zu sein scheint, als der ärmste Deutsche, doch warum sollte das ungerecht sein? Jeder der in Deutschland aufwuchs hat die Chance auf ein gutes Leben. Jeder Deutsche hat die Chance auf Arbeit und Obdach. Dass es Menschen gibt, die trotz aller Potentiale die ihnen ihr Land bietet nichts erreicht haben ist nicht die Schuld der Flüchtlinge und ebenso wenig die Schuld des Vaterlandes statt vielmehr ihre eigene. Wer in einem Land wie Deutschland groß wurde, wurde überhäuft mit Chancen und Möglichkeiten. Man kann sich frei für einen Weg entscheiden und, wie die aktuellen Zahlen an Abiturienten und Studienanfängern zeigen, ist Bildung nicht länger ein Luxusgut wie in vielen anderen Teilen der Welt, in welchen häufig von Geburt an vorbestimmt ist, dass man eines Tages in die Fußstapfen des Vaters treten muss und dessen Kfz-Werkstatt zu übernehmen hat. All das wisst ihr besorgte Bürger. All das schätzt ihr an eurem Land. Und würde man euch mit der theoretischen Frage konfrontieren, wie ihr reagieren würdet, wenn es irgendwann dazu käme, dass Flüchtlinge in Deutschland Asyl suchen müssten, weil sie in ihrem Land keine Perspektive mehr haben, so würden die meisten von euch sicherlich verständnisvoll reagieren.



Doch ist die Situation nun eben keine bloße Theorie mehr. Es geht nicht mehr um ein fiktives Szenario, sondern um eine konkreten Zustand der eure Toleranz erfordert – und leider hört euer Verständnis an dieser Stelle abrupt auf. Ihr erfreut euch an dem Wohlergehen eures Landes und vergesst dabei zu großen Teilen, dass die deutsche Wirtschaft in hohem Maße von Rüstungsexporten profitiert. Exporte in eben die Länder, in denen nun deutsche Waffen dafür sorgen, dass Menschen ihre Heimat aufgeben müssen. Ihr stellt eure eigenen Bedürfnisse meilenweit über die anderer Menschen und reagiert pikiert auf Vorwürfe die euch den Spiegel vorhalten. Ihr distanziert euch ausdrücklich von denen, die Brandanschläge auf Flüchtlingsheime ausüben, sympathisiert aber im Stillen mit diesen Menschen und wünscht euch, dass diese Übergriffe dafür sorgen, dass ihr Deutschland wieder für euch habt und euren verbliebenen Wohlstand nicht mit Fremden teilen müsst. Teile von euch leben von Hartz 4 und liegen damit ganz ungeniert dem Staat auf der Tasche, obwohl ihr die Möglichkeit hättet zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Wenn nun aber Menschen, die in ihrem Land erfolgreich und wohlhabend waren, in euer Land kommen und dort auf eine Zukunft hoffen, in der Sie den Staat unterstützen können, platzt euch der Kragen weil euch wieder einmal vorgelebt wird, wie viel wertvoller andere Menschen für eure eigene Gesellschaft sein können, obwohl sie nicht einmal in diesem Land geboren wurden.



Mein Appell an euch ist deswegen: Legt euer von Grenzen geprägtes Denken ab und seht Menschen als das was sie sind – nämlich Menschen. Euer Schubladendenken von Deutschen, Syrern, Arabern, Türken und allen anderen Nationalitäten ist schuld daran, dass ihr euch von diesen Flüchtlingen so bedroht fühlt. Für euch sind das Menschen zweiter Klasse, schon allein deswegen weil sie keine Deutschen sind. Ihr seid beleidigt, weil diese Menschen über eine Grenzen kamen und in einem wohlhabenden Land Schutz suchen, statt froh darüber zu sein, dass es Menschen gibt die dem Schrecken in ihrem eigenen Land entkommen konnten. Statt zu überlegen wie ihr diesen Menschen helfen könntet sucht ihr nach Mitteln, diesen Menschen ihren Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu gestalten, auf dass Deutschland das nächste Land ist aus dem sie fliehen müssen. Also hört auf über diese Menschen als Bedrohung nachzudenken,  sondern seht sie als Menschen. Menschen wie du und ich, die einen harten Weg hinter sich haben, die mehr Schrecken erlebt haben als je ein Mensch erleben sollte, die Teil einer Familie sind, die Wünsche und Träume haben und die vielleicht eines Tages, wenn du es zulässt, dein Freund sein könnten und ganz unverhofft  dein Leben bereichern können – statt, wie du befürchtest, dir etwas wegzunehmen.

Herzlichst,



ein über eure Besorgnis besorgter Bürger

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