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Caro und ich Teil 1

Text: ClementineSpring

Morgen ist es wieder so weit. Ich stehe um 06.00 Uhr auf um Caro um 07.18 Uhr an der Bushaltestelle vor dem Gesundheitsamt abzuholen. Da beginnt ihr Tag. Sie macht dort gerade ein Praktikum im Rahmen ihres Studiums und ich begleite sie. Genauer gesagt, ich begleite sie durch ihren Alltag.
Caro hat eine spastische Tetraparese. Eine Tetraparese ist eine unvollständige Lähmung der vier Gliedmaßen, in ihrem Fall eine spastische Lähmung. Das bedeutet, dass ihre Muskeln mehr oder weniger ständig angespannt sind – der Muskeltonus ist erhöht und es kommt zu Muskeleigenreflexen. Sie kann ihre Bewegungen nicht komplett willentlich steuern.
Caro sitzt im Rollstuhl. Laufen geht langsam, aber nur sehr mühselig und in gebückter Haltung. Ihre Finger und Arme bewegt sie konzentriert, wie andere versuchen lange auf einem Bein zu stehen. Mit viel Zeit kann sie kleine Texte schreiben, aber sie diktiert lieber, denn das geht schneller, wie sie sagt, und sieht besser aus.
Dieses Schicksal lebt sie seit ihrer Geburt. Caro sollte eigentlich erst im April geboren werden, doch war es Januar als sie das Licht der Welt erblickte. Viel zu früh, die Lungenfunktion noch nicht wirklich entwickelt, kein Arzt da und so starben wichtige neuronale Nervenverbindungen ab. Geistig entstand kein Schaden, nur ihr Körper konnte sich nicht mehr richtig entwickeln. 




Seit etwa einem Jahr begleite ich Caro nun schon durch ihren Alltag – begonnen habe ich damit im letzten Oktober. Ich wollte als Nebenjob und Broterwerb nicht schon wieder hinter irgendeinem Tresen stehen oder genervten Muttis Kuchen servieren. Nein, ich wollte irgendwas tun, was mich selbst auch etwas weiter bringt – falls man das so wachstumsorientiert sagen darf. Da kam mir Caro's Anzeige wie gerufen. "Persönliche Assistenz" hieß es da. Viel konnte ich mir darunter nicht vorstellen. Naja, jemanden eben durch seinen Alltag begleiten – dachte ich mir. Und so schrieb ich eine Bewerbung. 
Ich war ziemlich aufgeregt, als ich ihr das erste Mal gegenüber stand. Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich „was mit Menschen“ machen sollte, schon während der Schulzeit habe ich beim Kinderpsychologen gejobbt und nach dem Abitur ein längeres Praktikum in der Psychiatrie gemacht. Aber hier sollte ich 24 Stunden mit einem Menschen verbringen, der mir vollkommen fremd war und ihn auch noch pflegen.
„Keine Angst. Für mich war es bei Caro auch das erste Mal. Du hast ja Handschuhe an.“, sagte mir die Assistentin, die an dem Tag Dienst hatte. Es dauerte einen Moment bis mir klar wurde, was genau damit gemeint war. Caro schaute mich an und meinte: „Ich kann die Arme halt nicht weiter als hier bewegen.“ Hier war ungefähr auf Hüfthöhe. Sie grinste „Aber ich kann dir alles erklären. Ich hab da unten Gefühl.“ Voller Zuversicht und der Überzeugung daran, dass ich das schon irgendwie händeln würde, lächelte ich „Kein Problem. Das wird schon gehen.“
Später im Auto holte ich tief Luft und stellte mir die Frage, ob ich das wirklich konnte – einen anderen Menschen im Intimbereich pflegen oder krasser gesagt, einem Fremden nach dem Stuhlgang den Hintern abwischen. Auf der einen Seite, was sollte da schon Schlimmes passieren, es wird nicht besonders gut riechen. Im schlimmsten Fall würde mir schlecht werden. Führte ich mir sachlich vor. Auf der anderen Seite beschlich mich ein kleines Gefühl der Panik. Trotzdem wollte ich es versuchen. Die 24 Stunden waren auf einmal nebensächlich.
Heute nach fast einem Jahr kann ich sagen, dass ich mir durchaus vorstellen kann, dass die Intimpflege eines anderen für einige Menschen eine große Hemmschwelle darstellen kann, ich es für mich jedoch ganz pragmatisch sehe: Es ist nichts vor was man sich fürchten muss. Es ist ein Körper, so wie deiner und meiner auch. Vielleicht hat es mir Caro aber auch in dem Punkt sehr leicht gemacht, da sie immer alles offen und direkt angesprochen hat und mir mit einer großen Natürlichkeit begegnet ist.



Die 24 Stunden hingegen können eine ganz schön lange Zeit sein.



Schichtbeginn ist normalerweise um 19.00. Im Moment habe ich zwei Tage im Monat, an denen ich nur eine halbe Schicht mache und zwei an denen ich komplett da bin. 24 Stunden einen Menschen durch seinem Tag zu begleiten, heißt 24 Stunden gegen seinen eigenen Rhythmus zu leben und 24 Stunden für jemanden da zu sein.
Caro braucht nicht viel Schlaf und steht gerne – auch am Wochenende –zwischen sechs und sieben Uhr auf. Ich hingegen schlafe am liebsten bis halb neun, gerne auch 8 Stunden und gehe dafür selten vor 1Uhr ins Bett. Eine Lerche und eine Eule. Dementsprechend ist auch unser Essensrhythmus verschieden. Ich frühstücke gerne, Caro nicht, sie isst meist erst gegen 13Uhr das erste Mal. Trotzdem ist um 18 Uhr Abendessen bei ihr angesagt, während ich auch schon mal um 22 Uhr zu kochen beginne. Im Prinzip muss ich nicht mit ihr essen. Das gehört nicht ins Jobprofil, aber da Caro die Gemeinschaft schätzt und ich auch nicht gerne alleine esse, versuchen wir uns da entgegen zu kommen. Und das klappt meistens ganz gut.
Wie jeder andere Mensch hat auch Caro Sorgen, Ängste, ist mal gut und mal schlecht gelaunt. Und es gibt Tage an denen sie richtig unausstehlich sein kann, am Boden zerstört ist und die ganze Welt hasst und genauso welche an denen sie super glücklich ist, Zufriedenheit ausstrahlt und sich über jeden freuen kann. Nur, da ich der erste Mensch in ihrer Nähe bin, bekomme ich meist alles ungefiltert mit. Was sehr anstrengend sein kann, vor allem wenn die schlechten Tage für eine lange Zeit überhand gewinnen.
Für so einen Job wird man nicht ausgebildet und Fortbildungen und Trainings sind rar. Am Anfang brauchte ich nach einem Tag Caro, fast einen Tag Ruhe um wieder bei mir selbst anzukommen und alles zu verarbeiten. Mittlerweile bin ich beim Feierabend auch psychisch im Feierabend. Aber das hat eine Zeit gebraucht.
Ich wurde mal von einem Bekannten gefragt, ob sich da auch eine Freundschaft entwickeln könnte. Dabei musste ich an den französischen Film Intouchables zu deutsch Ziemlich beste Freunde denken und lachen. „Nein, ganz so, ist es nicht.“ 






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