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"Ihr seid nicht das Volk, ihr seid die Arschlöcher!"

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Prof. Wolfgang Kaschuba ist Ethnologe und Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung

jetzt.de: Zu Anfang mal ganz generell gefragt: Wann sagt man "Wir"?
Wolfgang Kaschuba: "Wir" zu sagen ist im menschlichen Denken geschichtlich tief verankert. Denn wir Menschen können eigentlich erst seit einem Jahrhundert notfalls auch alleine überleben. Vorher galt, dass wir uns in Gruppen organisieren mussten, um unsere Ressourcen, also  Äcker, Häuser, Geräte gemeinsam zu nutzen und zu sichern.

Und "die Anderen"?
Die Anderen waren automatisch die, die das bedrohten, die uns vermeintlich etwas wegnehmen wollten. Ohne ein "Die Anderen" macht ein Wir-Begriff auch keinen Sinn, denn ohne ein Gegenüber gibt es keine Abgrenzung.

Und was ist heute das Wir und wer sind die Anderen?
Was wir heute lernen können und müssen ist, dieses Wir und die Anderen zu relativieren. Es nicht mehr nur an zwei oder drei Faktoren festzumachen, an Sprache, Religion oder Nation, sondern auch an Werten und Lebensstilen, an Esskulturen und  Musikgeschmack. Wir müssen dem Wir eine offenere und spielerische Form geben.

Das ist ein bisschen das, was 2006 passiert ist, oder? Als während der Fußball-WM alle "wir" gesagt haben, aber es bloß um Fußball ging.
Ja, das war toll, weil plötzlich klar war: Fußball ist zwar im Moment für die Fangemeinschaft total wichtig – aber wenn die neunzig Minuten rum sind, relativiert sich das eben doch. Nach Siegen wie nach Niederlagen. Und genau das ist dann das Spielerische.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Kann es irgendwann vielleicht doch ein Wir ohne die Anderen geben?
Wir sind in der komfortablen Situation, dass wir das alte Wir nicht mehr im Sinne von "Ich verteidige meine Äcker, meine Stadt, meine Familie" leben müssen – jedenfalls in Europa. Ich glaube allerdings nicht, dass ein Wir im Sinne einer universellen Weltgemeinschaft jemals entstehen kann. Das wäre uns zu groß und es gibt da doch immer Nähen und Distanzen. Aber wir müssen lernen, dass diese Nähen und Distanzen nicht feindschaftlich geklärt werden können, sondern nur über Kommunikation und Respekt. Und dass wir mit Unterschieden auch spielerisch und selbstironisch umgehen können – eben wie bei "Schland…".

Wie noch zum Beispiel?
Selbst boshafte ethnische Witze über "Kartoffelfresser", "Spaghettis" oder "Mohammeds" sind, leicht ironisch gesagt, der Beginn einer Freundschaft: Denn wir nehmen uns damit wahr. Wenn man sich das sagen darf, ohne sich gleich zu prügeln, ist das eine Art von Kontaktaufnahme. Und wenn die gelingt, dann werden die Grenzen zwischen dem Wir und den Anderen porös.

Aber schöner wäre es schon, es gäbe gar kein Wir und die Anderen, oder?
Ich glaube nicht, dass wir das Wir einfach aufgeben können, sondern wir müssen lernen, es multipel zu denken, also in allen möglichen Formen und Formationen.

"Man muss den Mut haben, denen in Heidenau entgegenzurufen: 'Ihr seid nicht das Volk, ihr seid die Arschlöcher!'"


Man kann also zu verschiedenen Wirs gehören?
Ja, das ist ja die alte Idee des Kosmopolitischen, das sich früher nur die Oberschichten leisten konnten. Die Wissenschaft und die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts haben immer nur gefragt: Was trennt uns? Heute sollten wir fragen: Was verbindet uns? Sind die Schnittmengen zwischen den Katholiken, Muslimen und Atheisten auch in München vielleicht größer als die Differenzen?

Sind sie das denn?
Wenn wir an Wohnen und Arbeiten denken, an Auto und Konsum, an Esskultur und Musikgeschmack, an Freizeit und Sport, dann gibt es große Schnittmengen. Aber wegen dieses Denkmusters "Wir und die Anderen" stellen wir die Differenzen automatisch in den Vordergrund, zum Beispiel die Religion. Dabei sind die Unterschiede dort oft viel geringer, als wir denken: Achtzig Prozent der Muslime gehen so oft in die Moschee wie neunzig Prozent der Katholiken in die Kirche. Nämlich nie oder ein Mal im Jahr zu einem besonderen Anlass.

Zur Zeit gibt es ja wieder ein großes Wir, es geht um "unsere" Willkommenskultur und was "wir" für die Flüchtlinge tun. Darf man denn, gerade wenn es um Integration geht, überhaupt "wir" sagen?
Ja, das darf man. Weil die Anderen so überhaupt erstmal in unser Blickfeld rücken. Und wenn wir ihnen Platz geben in unserer Mitte, was wir ja gerade tun, dann ist das positiv. Auf der Ebene der Interaktion begegnen wir dann diesen Anderen, auf der Ebene der Kommunikation sprechen wir mit ihnen und auf der Ebene der Imagination denken wir sie allmählich in unsere Wir-Bilder mit hinein.

In Bildern, wie denen vom Münchner Hauptbahnhof?
Ja! Atmosphärisch ist es toll: diese Bilder mitten aus der Stadt, vom Bahnhof, an dem die Leute ankommen und begrüßt werden. Das zeigt symbolisch, dass Migration heute überall ist, nicht nur am Rand der Gesellschaft. Das ist eine große Chance – obwohl das natürlich auch Probleme mit sich bringt. Bloße Euphorie trägt oft nicht lange.

Ein Bekannter von mir schrieb nach den Ausschreitungen in Heidenau auf Facebook: "Wir sind vielleicht nicht das Sozialamt der Welt, aber auf jeden Fall die größten Arschlöcher der Welt." Gibt es das auch, ein negatives Wir?
Das Wir ist immer ambivalent. Und in diesem Fall bedeutet es, dass wir den Arschlöchern – um das Wort aufzugreifen –, die in Heidenau als "Wir" laufen, dieses Wir nicht überlassen dürfen. Man muss den Mut haben, denen an Ort und Stelle entgegenzurufen: "Nein, ihr seid nicht das Volk, ihr seid die Arschlöcher!" Je weiter wir sie aus dem Wir unserer Bilder rausdrängen, umso besser, weil sie sich dann nicht mehr als "gesundes Volksempfinden" inszenieren können.

Ist ein Wir also wichtig, um Krisen wie die aktuelle zu überstehen?
Natürlich. Wenn das Wir nicht "wir Deutschen" meint, sondern sich auf die Menschen in Deutschland bezieht, auf die Gesellschaft, und wenn es sich auch auf die EU bezieht oder auf eine globale Gesellschaft derer, die eben keine "Arschlöcher" sein wollen. Denn dann entwickeln wir Wir-Bilder, in denen Platz für Unterschiede, Vielfalt und Kontroversen ist. In denen Platz ist für Andere. Diese Erweiterung ist nicht einfach, denn es ist immer leichter, in meiner kleinen Gruppe meinen Platz zu finden und mich aufgehoben zu fühlen. Aber das müssen wir eben lernen: Dass wir uns auch in "offenen" Räumen wohl fühlen – auch weil wir selbst da mehr Möglichkeiten haben.

Text: nadja-schlueter - Illustration: Daniela Rudolf; Foto: oH

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