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Und wenn man zu viel geliebt hat

Text: Zwischenruf

Plötzlich ist man alt. Das sagte meine Mutter immer zu mir: Eines Morgens wirst Du wach werden und dann bist Du plötzlich alt. Und es stimmt. Dann ist das Lächeln mehr Melancholie als Vorfreude und der schnelle Herzschlag mehr Angst als frohes Bangen. Dann sind die strohblonden Haare plötzlich grau und die schönsten Dinge sind Erinnerungen. Die Koketterie über das Altern ist plötzlich ernst geworden, ohne dass man es gemerkt hätte. Dann denkt man nicht mehr: Was wird noch kommen? Man denkt: Was ist gewesen? Ich höre die Lieder aus den letzten Jahren und denke an Dich. Meine Vergangenheit, nie meine Zukunft.



Und wenn man zu viel geliebt hat in seinem Leben, was dann? Dann reicht das Lächeln bis in die Augen und erzählt von einer Traurigkeit, die schwer in Worte zu fassen ist. Dann kommen die Jahre, greifen mit kalten Fingern nach Dir und stehlen die Sonne vom Himmel. Dann schaust Du in die Sterne und weißt, dass sie Milliarden Lichtjahre entfernt und ganz sicher nicht greifbar sind. Dann hat die Liebe Dich zum Realisten gemacht und trotzdem treibt Dir jedes traurige Liebeslied die Tränen in die Augen, denn Deine Welt ist die Erinnerung und nicht die Möglichkeit.



Deine Augen erzählen genau das. So wie sie in Menschen lesen können, scheinen sie jedes Geheimnis Deiner schönen Seele zu offenbaren. Solche Augen hat man vom vielen Lieben, vom Altwerden und davon, es jeden Tag zu spüren. Solche Augen, so verletzlich, so offen und bloß, die sieht man nicht mehr oft in dieser Welt. Solche Augen sind gefährlich.



Müde sind wir geworden, bleich und grau gehen wir durch die Welt, nur die Augen, die erzählen vom Lieben und von den Jahren, von dem Lachen, das längst schon keine Geschichte mehr hat, von den Abschieden, deren Menschen nicht mehr da sind. Grau, gebeugt und wie gelähmt gehst Du durch diese Welt und siehst den Sonnenaufgang nicht mehr, hörst das Wellenrauschen nicht mehr und Dein schönes, herzliches Lachen habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. Ich habe aufgehört zu hoffen, zu bangen, Dir zu folgen.



Wir können uns nicht mehr helfen. Also schreibe ich Deine Geschichte – so wie sie sein sollte. Irrwege gibt es nur, wenn sie Dir das Schöne zeigen. Fiese Gestalten nur, damit Du sie überwindest und am Ende darüber lachen kannst, wie leicht es doch war. Ich schreibe Dir Deine Welt. Freunde stelle ich Dir an die Seite, die Du erkennen wirst; Fremde begegnen Dir auf Deinem Weg durch die Seiten und werden Dir mit der Zeit gar nicht mehr so fremd sein. Kein großes Drama, keine Theatralik, keine übertriebenen Gesten – Du Freund der leisen Töne sollst genau die haben.



Ich werde Dich nicht wiedersehen, ich werde nie wieder zusehen, wie Du aufs Meer siehst und ich werde mich doch immer fragen, was Du in dem endlosen Blau von Himmel und Wasser siehst. Ich habe Dich viel zu viel geliebt, um damit jemals aufhören zu können. Das sehe ich ein und ich bekenne mich schuldig. Das ist leicht, denn Du klagst nicht an. Du weißt schließlich, wie es ist, wenn man zu viel liebt und dabei die Welt aus den Augen verliert. 

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