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Fantasie ist Opium für das Volk

Text: Jahre

Seit einigen Stunden befand sich Isabel Christiansen in einem Reisebus auf dem Weg zu einem Überraschungsziel. Mit gelegentlichen Seufzern blickten die Insassen aus dem Fenster und betrachteten eine öde und ausgestorbene Landschaft. Darüber wölbte sich ein grauer Himmel, der aus mehr Beton zu bestehen schien als jede Plattenbauruine, an der der Bus vorbeifuhr. Einzig Isabel lächelte und rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz hin und her. Gegenüber von ihr saß ein Passagier, der mit einem verzogenen Mund und verschränkten Armen ins Nichts blickte.



„Entschuldigung, wissen Sie, wie lang die Fahrt noch dauert?“ fragte sie ihn. Er zuckte die Achseln.



„Eine halbe Stunde? Eine dreiviertel Stunde? Keine Ahnung. Warum eigentlich so ungeduldig?“



„Ach, ich kann halt den Urlaub kaum erwarten“, antwortete Isabel lächelnd, „Das Meer und die Berge und das warme Wetter. Das habe ich mir halt einfach verdient.“



„Ach so?“ erwiderte der Passagier und nickte. Eine Weile schwiegen sie wieder einander an. Isabel betrachtete aus dem Fenster einen kahlen Baum, auf dem einige Krähen saßen und die Achseln zuckten.



„Warum genau verdient? Haben Sie viel gearbeitet?“



„Ich habe vor wenigen Tagen meine duale Ausbildung beendet. Und jetzt geht es erst einmal an den See zu den Enten.“



„Ah ja“, sagte der Passagier nickend, „War die Ausbildung schwer?“



Isabel zuckte die Achseln.



„Hat schon gepasst.“



„Was für eine Ausbildung war das denn?“



„Zur Edelprostituierten.“



„Ah, was Spezielles.“



„Ja. Na ja. Dazu musste ich halt jeden Tag, von Montag bis Samstag, um halb fünf Uhr morgens aufstehen, um es rechtzeitig zur Schule zu schaffen.“



„Zur Schule? Müssen Edelprostituierte denn zur Schule?“



„Ja, schon. Wegen der Automatisierung, auch in unserer Branche. Wir müssen den Konsumenten halt etwas bieten, was Roboter nicht können. Dazu gehört halt zum Beispiel, auf die Konsumenten einzugehen. In meiner Abschlussprüfung hatte ich zum Beispiel einen Historiker, der auf die symbolische Kommunikation scholastischer Philosophen im späten Mittelalter spezialisiert ist. Da habe ich halt wegen meiner Ausbildung den Vorteil gegenüber Robotern, mich mit ihm darüber unterhalten zu können, bevor er mich eine halbe Stunde lang knallt. Mit einem Roboter könnte er das halt nicht. Mit ihm könnte er vielleicht pimpern, aber nicht diskutieren.“



„Stimmt ja, heutzutage geht man auch mal in den Puff, um Diskussionen über Philosophen zu führen. Kennt man ja.“



„Eben. Dafür sind die Roboter aber halt billiger. Da gibt es eben nur Sex, keine philosophischen Debatten.“



„Na, irgendwas ist immer. Alles hat seine Vor- und Nachteile, nicht?“



„Ja, genau. Und na ja, auch in anderen Fachbereichen braucht man halt Kenntnisse. Ist ja nicht jeder Puffbesucher ein Professor.“



Isabel lachte laut auf.



„Und darum ist eine schulische Ausbildung nötig“, fuhr sie fort, „Das dauerte dann jeden Tag von halb sechs bis drei Uhr nachmittags. Nach einer kleinen Mittagspause ging es dann weiter mit dem praktischen Teil bis drei Uhr Nachts. Dann eine Stunde Nachtruhe und alles wieder von vorn.“



„Nicht schlecht. Und ich dachte, ich hätte einen langen Arbeitstag.“



„Na ja, das liegt halt auch an der Automatisierung. Wie gesagt. Wir müssen halt mehr bieten können als die Roboter. Die muss man alle zwei Stunden etwa neu mit Öl beschmieren, damit man sie weiter knallen kann. Wir müssen halt zeigen, dass wir länger durchhalten, damit wir halt auch unser Geld wert sind. Wir sind halt teurer als die Roboter.“



„Wieso das? Weil ihr noch echte Menschen seid?“



„Nein, weil wir eine teurere Ausbildung haben. Die fällt ja bei den Robotern weg. Und das Geld, das in die Schulen gesteckt wird, muss ja irgendwie auch wieder rein.“



„Ja, stimmt, klar.“



„Ja, ist halt eben notwendig. Aber eigentlich passt alles schon. Manchmal etwas viel Arbeit, aber hey, muss ja jeder machen. Ich verdiene ja ganz gut und freu mich jetzt erst mal auf den Urlaub. Kann es kaum erwarten, Enten zu sehen.“



„Enten?“



„Ja, schon, Enten. Ich habe noch nie welche gesehen.“



„Die sind ja auch schon lang ausgestorben. Ich bin ja ein Stück älter als Sie und war noch ganz klein, als noch welche rumgeflogen sind.“



„Ja, aber wo wir hinfahren, gibt es doch sicher welche.“



„Meinen Sie?“



„Also in der Reisebroschüre stand doch so was wie ‚Unternehmen Sie eine Reise an einen Ort, wo es alles und nichts gibt‘ oder so, oder?“



„Klingt, als wäre es Interpretationssache.“



„Also ich stelle es mir so vor, dass es da Flüsse und Seen gibt, blaue Berge am Horizont, eine warme Sonne am Himmel. Und überall Tiere, die sich streicheln lassen und sich gegenseitig beschnuppern.“



„Ernsthaft?“ fragte der Passagier und lachte verächtlich, „Enten, Sonne und Berge?“



„Nicht nur“, antwortete Isabel mit großen Augen, „Ich kann mir auch vorstellen, wie sich tagsüber Regenbögen über die Erde spannen, auf denen freundliche Kobolde auf Einhörnern hinabreiten und sich Wölfe und Lämmer gegenseitig kitzeln statt zu fressen oder wie nachts ein lächelnder Vollmond leuchtet, der einem eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt, in der ein Nacktmull die Liebe seines Lebens auf Elitepartner.de kennenlernt.“



Der Passagier schmunzelte süffisant und kratzte sich am Kinn.



„Klingt recht blödsinnig.“



„Wie stellen Sie sich denn Ihren Urlaub vor?“ fragte Isabel eingeschnappt und verschränkte ihre Arme.



„Gar nicht.“



Isabel blicke den Passagier überrascht an, lachte und schüttelte dabei ungläubig den Kopf.



„Wie ‚gar nicht‘?“



„Na eben gar nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da irgendwelche Enten durch die Gegend fliegen und mit Wölfen schmusen. Vielleicht wird sich keiner mehr was vorstellen können. Kein Bewusstsein, keine Existenz, kein irgendwas.“



„Das klingt ja deprimierend“, meinte Isabel und rümpfte ihre Nase.



„Das heißt natürlich auch kein Schmerz“, erwiderte der Passagier, „Stellen Sie sich vor, der Kobold fällt vom Einhorn, rutscht den Regenbogen hinab und bricht sich dabei das Genick.“



Isabel zuckte die Achseln und blickte aus dem Fenster



„Na ja, hat ja jeder seine eigene Vorstellung vom Reiseziel.“



Eine Weile fuhren alle schweigend weiter. Isabel bemerkte von weitem ein Ortsschild, auf dem „Ziel“ stand. Sie richtete sich auf dem Sitz auf und beugte sich nach vorne, konnte aber die Entfernungsangabe nicht erkennen.



„Wann sind wir denn da?“ fragte sie.



„Jetzt“, antwortete der Passagier. Der Bus beschleunigte auf Höchstgeschwindigkeit und fuhr über einen Abgrund. Aus dem Fenster beobachtete Isabel, wie der Boden unter dem Bus verschwand und sich ein dichter Nebel um sie herum ausbreitete, bis nichts anderes mehr zu sehen war.



„Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir unser Ziel“, tönte es aus den Lautsprechern, „Bitte bleiben Sie bis dahin angeschnallt. Haben Sie vielen Dank für Ihre Geduld und Ihr Geld. Beehren Sie uns wieder, sofern unser Reiseunternehmen in Ihrer Fantasie Platz hat. Danke.“



Isabel lehnte sich nun auf ihren Sitz zurück, entspannte sich und lächelte beim Gedanken an die Enten, als der Bus auf einem Felsen aufprallte und sämtliche Vorstellungen vom Reiseziel wahrwerden ließ.






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