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Wer, wenn nicht wir?

Text: lutz

 



Von meinem Leben als Migrant und dem Versagen eines Kontinents



 



Ich bin seit etwa 15 Jahren Ausländer. Ich habe in dieser Zeit in der Schweiz, dann in Spanien, dann in Mexico, dann in Venezuela gelebt. Von dort bin ich wieder nach Spanien zurückgekehrt, man kann sagen: aus mangelnder Perspektive in Venezuela. Folgerichtig kann man mich und meine Familie als Wirtschaftsmigranten bezeichnen. Wir sind ausschließlich aufgrund meines deutschen Passes legal aufgenommen worden. Unsere Legalität ist die Ausnahme.



Keine Ausnahme sind unsere Bedürfnisse nach Perspektiven und Stabilität, das Grundbedürfnis nach Sicherheit.



Die überwältigende Mehrheit der gegenwärtig 193 anerkannten Staaten der Erde sehen in Deutschland eines der reichsten, effizientesten, wohlhabendsten Länder der Welt. Zu Recht.



Die Länder der heutigen Europäischen Union und besonders Deutschland wurden und werden seit Jahrzehnten als ein Hort des Friedens und des Wohlstandes wahrgenommen. Gemessen an der Anzahl bewaffneter Konflikte im selben Zeitraum sowie am deutlich niedrigeren Lebensstandard in mindestens zwei Dritteln der Länder weltweit trifft auch dies zu.



Wir sind eine Insel des Wohlstands. Und global betrachtet sind wir die Minderheit. Ein elitärer Club.



Man sollte meinen, in einer Wohlstands-Gesellschaft mit vergleichsweise hohem Bildungsniveau seien – gerade angesichts der Geschehnisse des vergangenen Jahrhunderts – ein gewisses Maß an Dankbarkeit und Demut eine Selbstverständlichkeit.



Eigentum, Reichtum und Wohlstand sollten niemanden dazu verleiten, Hilfsbedürftigen mit Überheblichkeit, Ignoranz und Selbstgerechtigkeit zu begegnen. Egal, in welchem Maßstab.



Im Gegenteil: Wohlstand heißt Verantwortung. Egal, in welchem Maßstab.



Vor allem, wenn wir uns ins Bewusstsein rufen, dass der Wohlstand Europas über die vergangenen Jahrhunderte hinweg auch auf Kosten jener Kontinente gewachsen ist, deren Menschen jetzt so zahlreich an unsere Tore klopfen. Und wir die Grenzen immer fester schliessen, bis sich schließlich angesichts des immer stärker werdenden Andrangs Szenen abspielen wie im Krieg.



An unseren Grenzen sterben Menschen.



Wie sehr enttäuscht, wie sehr erschüttert mich diese Europäische Union, deren Idee doch das Zusammenwachsen, die Vermeidung neuer Konflikte auf dem Kontinent ist! Auf wessen Kosten dies geschieht, sehen wir in diesen Tagen.



Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Flüchtling seine Heimat nicht freiwillig verlässt. Wir können auch davon ausgehen, dass unabhäning, ob ein Mensch vor Krieg oder “nur” vor Armut flieht, er sicher nicht die Strapazen und bitteren Erniedrigungen einer monate-, teils jahrelangen Flucht nach Europa auf sich nimmt, um sich nach seiner Ankunft durch unser Sozialsystem zu “schmarotzen”.



Umso mehr schäme ich mich in Grund und Boden für mein Land, wenn ich auf einer der inzwischen so zahlreichen Asylgegner-Facebook-Seiten Kommentare lesen muss wie:



 



“Bitte flüchten Sie weiter!



Hier gibt es nichts zu wohnen”



 



“101 Personen gefällt das.”, steht daneben.



 



Ich bin in allen Ländern, in denen ich bis jetzt gelebt habe, gut aufgenommen worden.



Ich kann nicht glauben, dass genau das in meinem eigenen Land anders sein soll.



Schieben wir es bitte nicht auf die Politik. Dies ist ein gesellschaftliches Problem, und ich würde mir wünschen, die Gesellschaft würde sich dieser Herausforderung bewusst. Geben wir ein kleines bisschen zurück von unserem Reichtum. Wir, nicht die Politik. Das sind wir schuldig.



Öffnen wir unsere Herzen und unseren Verstand oder machen wir wenigstens den Mund auf! Oder wenn selbst das zu schwer fällt, akzeptieren wir doch zumindest diese Herausforderung als historische Tatsache, der wir uns gefälligst zu stellen haben.



Je früher wir damit anfangen, umso weniger schmerzt es. 

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