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Deutsch lernen mit Stickern

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Amelie Kim Weinert, 25, hat einen Werkzeugkasten zusammengestellt, der Flüchtlingen, die nicht lesen und schreiben können, das Lernen erleichtern soll. Im Interview erzählt sie von ihrem Lehrbuch, das sich nicht nach lernen anfühlen soll.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Flüchtlinge lernen wichtige Worte zum Ankommen, ohne Schulatmosphäre.

jetzt.de: Dein Buch erinnert an diese Point-It Hefte, mit denen man im Urlaub ganz gut durchkommt, ohne die Sprache zu sprechen. Wie sieht so was speziell für Flüchtlinge aus?
Amelie Kim Weinert: Stimmt, das wird auch oft in der Flüchtlingsarbeit verwendet, ist aber echt nur für banalste Verständigung. Ich wollte einen Schritt weiter gehen. Mein Buch soll Menschen, die wirklich noch gar kein Deutsch oder vielleicht nicht mal lesen und schreiben können, auf einen späteren Integrationskurs vorbereiten. Aber eben nicht allein, sondern in Begleitung eines Ehrenamtlichen. Es ist sozusagen ein Mitmach-Buch, das beide in regelmäßigen Treffen gleichermaßen füllen und sich dabei kennenlernen und austauschen können. Das funktioniert mit Bildern, Fotos und Icons, aber man hat auch kleinere Übungen zur Aussprache von einfachen Wörtern wie „Mama“ oder kann auf einer Karte dem anderen sein Herkunftsland zeigen.  

Es gehören also zwei dazu?
Genau. Mittlerweile gibt es Studien, die belegen, dass mit der zunehmenden Flüchtlingszahl auch immer mehr Menschen helfen wollen. Oft wissen sie aber nicht, wie. Sie fühlen sich nicht qualifiziert genug oder haben nur wenig Zeit. Das Buch ist ein Einstieg. Es gibt sechs Kapitel und pro Kapitel sind zwei Treffen angedacht, die frei eingeteilt werden können. Für die spielerischen Aufgaben braucht man keine besondere Ausbildung, die Sprachbarriere wird überwunden und beide haben das Buch als Orientierungshilfe für die Treffen. Natürlich ist darüber hinaus noch viel mehr möglich: Sie können sich gegenseitig Spiele beibringen, zusammen kochen und sich über die vorgegebenen Themen hinaus austauschen.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ehrenamtliche und Geflüchtete bearbeiten die Aufgaben gemeinsam.

Eigentlich bist du ja Designerin. In dem Bereich scheinen Projekte für Flüchtlinge gerade nur so aus dem Boden zu sprießen.
Zum Glück! Ich finde, es wird echt mal Zeit, dass wir uns mehr damit beschäftigen. Es gibt oft den Vorwurf, dass wir viel zu abgehoben arbeiten. Auch bei mir war es eher Zufall, dass ich dieses Projekt entwickeln konnte. Ich engagiere mich selbst in einer Flüchtlingsfamilie und da fiel mir auf, dass die Lernbücher oft viel zu unübersichtlich und realitätsfremd gestaltet sind.  

Wie grenzt du dein Projekt vom gängigen Schulmaterial ab?
Die Bücher in den Sprachschulen sind so konzipiert, wie wir es aus deutschen Schulen gewohnt sind: Viel Text, viel Wiederholen und stundenlanges Nachmalen von Buchstaben. Und selbst in den Büchern für Analphabeten sind sehr viele Erklärungen in schriftlicher Form. Das erschwert den Lernprozess unnötig. In meinem Buch wird deshalb viel durch Bilder erklärt, es gibt keine Hausaufgaben oder sinnlose Wörter, die nichts mit der Lebensrealität der Flüchtlinge zu tun haben.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Mitmachen statt Auswendiglernen. Das Buch soll interaktiver sein als normale Schulbücher. Hier kann man mit Stickern seine Hobbys einkleben.

Wonach hast du denn die Lernthemen ausgewählt?
Es ist jetzt nicht so, dass ich mir allein überlegt habe, was die Menschen lernen sollen. Ich bin keine Pädagogin. Aber ich engagiere mich schon länger in der Flüchtlingsarbeit. In den Gesprächen mit verschiedenen Familien haben mir oft die einfachsten Dinge gefehlt, um mich auszudrücken. Wie zeige ich ohne Karte, wo ich herkomme? Schön wären Bilder von „typisch deutschem Essen“ oder Smiley-Gesichter, um meine Stimmung auszudrücken. Das gibt ein normales Textbuch nicht her.  

Es gibt auch Fotos, die zeigen, wie die Ehrenamtlichen den Mund beim „A“ richtig öffnen. Welche Fähigkeiten sollte man noch mitbringen?
Lesen und Schreiben sind Grundlage auf Seiten der Ehrenamtlichen. Ansonsten gibt es ein Begleitheft mit didaktischen Tipps für die Betreuenden. Aber man muss wirklich kein Pädagoge sein. Wenn ich jemanden kennenlernen will, brauch ich dafür ja auch keine spezielle Ausbildung. Nur bei der Aussprache sollten die Ehrenamtlichen ein bisschen aufpassen. Zum Beispiel das M als „Mmm“ und nicht als „Em“ aussprechen. Dann wird’s im richtigen Deutschkurs später leichter, lesen zu lernen.   

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Man muss kein Pädagoge sein, aber das A sollte man aussprechen können.

Wie vermeidet man da ein klassisches Lehrer/Schüler Verhältnis?
Das war echt eine schwierige Gratwanderung beim Gestalten. Das Ganze sollte zwar verspielt, aber trotzdem erwachsenengerecht werden und beide Seiten gleichermaßen fordern. Dieses Machtgefälle aus der Schule wollte ich unbedingt vermeiden. In dem Kapitel „Hobbys“ können beide zum Beispiel mithilfe von Stickern ihre Lieblingsbeschäftigungen zusammenstellen. Bei Basics wie „Hallo und Tschüss“ funktioniert das Buch wie ein Sprachtandem: Der Ehrenamtliche lernt alles, was er beibringt, auch auf der anderen Sprache.    

Wie kommen Flüchtlinge und Ehrenamtliche an das Buch?
Bisher gibt es nur ein Exemplar. Meine Idee war ja erst mal nur eine Abschlussarbeit meines Studiums in Visueller Kommunikation. Dass die Idee jetzt so viel Aufmerksamkeit bekommt, motiviert mich, auch nach Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Aber es haben schon viele Stellen wie Landratsämter, Wohnheime und Ehrenamtliche bei mir angefragt. Die Flüchtlinge sollen auf jeden Fall kein Geld dafür ausgeben müssen.

Text: eva-hoffmann - Bilder: Amelie Weinert, Cover: Allessandra Schellnegger

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