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Ranggesellschaft

Text: Jahre
Herzog Heinrich der Tiger schwitzte und keuchte vor Erschöpfung, als er aus dem Fenster seiner Gondel blickte und mitten in der Prärie zwischen der ewigen Dunkelheit und dem Nichts die Ziellinie am Ende der Rennbahn erkannte. Bald sollte er gewonnen haben. Er befand sich in einem Wettkampf mit seinem Erzrivalen, dem Markgrafen Albrecht dem Nacktmull. Wie alle Leistungsträger der Gesellschaft stritten sie sich um ihren sozialen Rang, der durch ein Rennen zwischen ihren Gondeln ausgefochten wurde. Öffentlich angezeigt wurde der Rang durch die Stellung der Gondeln in einer riesigen Kette, die an einer Maschine befestigt war, die als „König“ bezeichnet wurde und seit Jahrtausenden existierte, ohne dass bekannt gewesen wäre, wer sie errichtet hatte und wie sie betrieben wurde. Dabei war es die Maschine selbst, die die Gondeln auf die Rennbahn versetze oder ihre Stellung innerhalb der Kette nach erfolgten Wettkämpfen veränderte. Je näher sich nun die Gondel am König befand, desto höher der Rang des Gondeleigentümers in der Gesellschaft. Das andere Ende der Gondelkette befand sich mitsamt den Rangniederen jenseits jeder Sichtweite und konnte auf keine Weise erreicht werden. Die Eigentümer jener Gondeln, die vom König ans Ende der Kette befördert wurden, verschwanden dabei auch spurlos.

Angetrieben wurden die Gondeln durch die Geliebten der betreffenden Leistungsträger, die stückchenweise in einen Dampfkessel geworfen wurden. Dabei spielte jedoch nicht nur die Anzahl der Liebhaberinnen eine Rolle, sondern auch ihre Schönheit. Als Heinrich sah, dass sein Konkurrent ihn einzuholen drohte, biss er sich auf die Lippen. Entschlossen zu gewinnen, trennte er das Gesicht seiner Geliebten, die er Bianka nannte, vom Kopf ab und warf diesen ins Feuer.



„Du schaffst es Tiger!“ rief er sich dabei selbst zu und imitierte das Gebrüll von Raubkatzen, ohne die Distanz zu Albrecht aufrechterhalten zu können. Dabei klingelte das Telefon, das er nach anfänglichem Zögern abnahm. Sein Konkurrent war am Apparat.



„Na? Wie sieht es mit deinem Frauenverschleiß aus?“



Albrecht ergänzte seine Frage mit einem schallenden, dreckigen Lachen.



„Besser als mit deinem, du Bastard. Ich habe die schönste Frau des Universums erobert. Da staunst du, nicht wahr?“



„Also ich habe noch dreizehn Stück in petto“, antwortete Albrecht und konnte vor Lachen kaum ein Wort artikulieren.



„Qualität statt Quantität, mein Lieber.“



„Glaubst du ernsthaft, deine Puppe ist der Königin ähnlicher als alle meiner Geräte zusammen?“



Heinrich zögerte zunächst mit einer Antwort und seufzte auf.



„Du bluffst“, sagte er schließlich und löste bei Albrecht abermals ein schallendes Gelächter aus. Aus dem Fenster sah Heinrich, wie er sich gekrümmt den Bauch hielt und nach Luft schnappen musste. Ein lustiger Mensch, dieser Albrecht. Heinrich legte auf, schlug mit der Faust gegen das Fenster, wartete eine Weile und nahm schließlich das Gesicht Biankas in die Hand. Tränen flossen ihm dabei aus den Augen.



„Oh Bianka, mein Abendrot, soll ich nun auch den letzten Rest von dir noch opfern?“



Das Gesicht schwieg.



 



Der Beginn ihrer Liebesgeschichte war erst wenige Monate her. Heinrich betrat einen Basar, der sich mitsamt seiner Läden und Konsumenten über einem riesigen Gitterrost erstreckte und durch zahlreiche Laternen beleuchtet wurde, die ein kaltes, neonblaues Licht verströmten. Im Zentrum des Basars thronte wie an den meisten öffentlichen Plätzen auf einer großen, sich beständig um die eigene Längsachse drehende Säule das riesige Gemälde einer nackten und wohlgeformten Frau, die dem Betrachter beständig zuzwinkerte und von der Bevölkerung als „Königin“ bezeichnet wurde. Solange das Gemälde existierte, rätselten die Menschen darüber, ob sie auch zwinkerte, wenn niemand sie betrachtete.



Heinrich, erkennbar an einem Kettenpanzer in Form eines Krawattenanzugs, stürzte sich in die Menge der Konsumenten, die sich unkoordiniert, aber heiter durch den Markt bewegten und dabei angeregte Unterhaltungen untereinander oder lautstarke Verhandlungen mit den Verkäufern führten. Ergänzt wurde das lebendige Ambiente durch vereinzelte Marktschreier, die mit verschiedensten Ausrufen und Parolen auf ihre Produkte aufmerksam zu machen versuchten, handele es sich um frittierte Socken, um aus Menschenzähnen angefertigte Oktaeder oder um Neologismen für leidenschaftliche Hobbywortsammler. Heinrich lief eilig durch den Markt und blieb mit suchendem Blick stehen, als einige Meter neben ihm ein Marktschreier seine Aufmerksamkeit auf sich zog.



„Schöne Frauen! Frische schöne Frauen! Mit Sorgfalt gezüchtet! Im Sonderangebot, solange der Vorrat reicht!“



Heinrich drängte sich durch die im Weg stehende Menge zum Marktschreier vor.



„Guten Tag, ich darf mich vorstellen: Herzog Heinrich“, sagte Heinrich und wischte sich den Schweiß von der Stirn, „Man nennt mich den Tiger. Beruflich bin ich Leistungsträger. Mir verdanken Sie Ihren Wohlstand.“



„Ach so? Na denn: Danke für meinen Wohlstand“, antwortete der Marktschreier freundlich lächelnd und offenbarte dabei mehrere Zahnlücken.



„Gern geschehen“, erwiderte Heinrich und nickte dabei mit einem süffisanten Lächeln, „Wie ich sehe, verkaufen Sie Objekte. Ich bin auf der Suche nach welchen, um meine Gondel anzutreiben.“



„Na ja, also Objekte habe ich hier sicher genug. Schauen Sie sich nur um.“



Der Marktschreier wies mit einer Hand auf einen Haufen lebloser Frauenkörper, die auf einem Holztisch aufeinandergestapelt waren.



„Ich sehe, ich sehe. Wie hoch sind denn Ihre Preise?“



„Na ja, die sind frisch vom Taxidermisten eingetroffen. Also von daher...“



Der Marktschreier packte einen Kopf brachial an den Haaren und hob ihn hoch.



„Schauen Sie mal: Der Königin wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch was Körpermaße und Muttermale angeht. Wie die Königin. In der Brustgegend hat der Taxidermist sogar noch extra was reingestopft.“



Der Marktschreier zerrte sie aus dem Körperhaufen und warf sie auf den Tisch.



„Wäre das nichts für Sie?“



Heinrich musterte sie und nickte gelangweilt.



„Na ja“, sagte er achselzuckend. Demgegenüber gewann ein anderer Frauenkörper auf dem Tisch seine Aufmerksamkeit, um den ein Kollege des Marktschreiers mit einem zweiten Leistungsträger verhandelte. Heinrich betrachtete den Körper und hatte Mühe, seinen Blick von ihr zu lassen. Wie gebannt starrte er sie an und musste nur einige Male unterbrechen, um ihr Aussehen mit dem der Königin zu vergleichen. Auch der Körper selbst schien mit seinem leblosen, debilen Gesichtsausdruck ihn anzusehen, als hätte sie sich genauso auf den ersten Blick verliebt wie er.



„Unfassbar“, sagte Heinrich mit offenem Mund, aus dem der Speichel tropfte, „Die nehme ich.“



Er schritt auf den Körper zu und zerrte sie mit einem Griff an sich.



„Hey, das ist meine, die wollte ich gerade kaufen!“ beschwerte sich der andere Kaufinteressierte.



„Verschwinde, du Spaten. Ich habe mehr Geld als du“, rief ihm Heinrich entgegen und schlug ihn damit in die Flucht.



„Ah, Sie haben mehr Geld, sagen Sie? Dann greifen Sie zu!“ sagte der Marktschreier und klatschte dabei in die Hände.



„Ja, und wie ich das werde“, erwiderte Heinrich euphorisiert, „Ihr Gesicht, ihre Haut, ihre Proportionen. Ich bin sprachlos. Auch das Haar: So blond wie das der Königin. Einfach unglaublich. So etwas Schönes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“



„Keine schlechte Wahl“, meinte der Marktschreier, „Ist aber das teuerste Exemplar hier. Wissen Sie schon, nicht?“



Heinrich lächelte verlegen und zuckte dabei die Achseln.



„Das ist nicht weiter schlimm. In den letzten Monaten habe ich besonders viel geleistet und gespart.“



„Alles klar.“



Während der Marktschreier den Körper einpackte, holte Heinrich seinen Geldbeutel aus dem Kettenpanzersacko.



„Die andere wäre nichts für Sie?“ fragte der Marktschreier, „Ich könnte Ihnen ein Angebot machen.“



„Um Gottes Willen, nein“, rief Heinrich entgegen und verzog das Gesicht, „Die ist der Königin nicht mal ansatzweise ähnlich. Nicht einmal mit der Kneifzange würde ich sie anfassen.“



„Och“, entwich dabei dem verschmähten Frauenkörper. Heinrich und der Marktschreier blickten sich irritiert an.



„Hat das Objekt soeben geseufzt?“ fragte Heinrich und schüttelte ungläubig den Kopf. Daraufhin begann der Körper unkoordiniert mit den Armen zu zappeln.



„Nicht das schon wieder“, sagte der Marktschreier die Augen rollend. Unter dem Tisch holte er einen Vorschlaghammer hervor und zertrümmerte damit den Kopf der Frau, die sogleich jede Körperbewegung einstellte.



„Kommt vor, dass ab und zu ein lebendes Objekt reinrutscht“, beschwichtigte der Marktschreier, „Ist aber ganz selten.“



 



Zuhause angekommen, präsentierte er seine neue Liebe stolz einem anwesenden Publikum, das sich um ihn herum versammelte. Dinge wie „Echt eine heiße Puppe hast du dir da geangelt, Tiger!“ oder „Eine so hübsche und der Königin gleiche Freundin hätte ich auch gerne“ sagten sie damals zu ihm. Doch sollte nur allzu bald die Zeit gegenseitiger Liebe und öffentlich inszenierter trauter Zweisamkeit dem unbarmherzigen Kampf um Rang und Ehre weichen. In der Überzeugung, dass Biankas nahezu perfekte Schönheit Treibstoff genug sogar für ein Rennen mit dem König selbst gewesen wäre, forderte er seinen alten Rivalen Albrecht zu einem Wettrennen heraus. Doch hatte er dessen Damenerfolg sträflich unterschätzt. Mögen seine Geliebten auch nicht die schönsten gewesen sein, so war ihre Zahl schier unüberschaubar. Und so stand Heinrich in seiner vom Kessel angeheizten und vom Schweißgeruch verseuchten Gondel, nur noch Biankas Gesicht in den Händen haltend, nachdem er ihren übrigen Körper verheizt hatte, und beobachtete, wie ihn Albrecht kurz vor der Ziellinie zu überholen drohte.



„Wie gerne hätte ich wenigstens dein wunderschönes Gesicht aufbewahrt“, sagte Heinrich, „Wie gerne hätte ich es meinen Eltern vorgestellt.“



Tränen strömten ihm dabei über die Wangen und verdampften auf dem Weg zum Boden. Bianka schwieg dagegen und ihr Blick blieb vollkommen leblos. Schließlich warf er ihren Rest in die Flammen, die nun besonders in die Höhe stiegen und gegen die Decke peitschten. Die Gondel nahm an Fahrt auf und ließ Albrecht weit hinter sich. Während Heinrich bitterlich weinte, überquerte er die Ziellinie und beendete das Rennen als Sieger. Als der König die Gondeln wieder in die Kette einfügte, setzte er Heinrich vor Albrecht ein. Einige Meter unter der Kette befand sich ein Gitterrost, auf dem sich eine Menschentraube versammelt hatte. Sowohl Albrecht wie auch Heinrich stiegen aus der Gondel und wurden durch einen Fahrstuhl auf das Gitterrost befördert, wo sie mit einem großen Jubel von den Anwesenden empfangen wurden.



„Herzlichen Glückwunsch, Heinrich“, sagte Albrecht nickend und schüttelte seinem Kollegen dabei die Hand, „Du hast wirklich ein heißes Gerät am Start, wie es der Pöbel ausdrücken würde. Deine Puppe scheint der Königin mehr zu ähneln als jede andere.“



Heinrich konnte sich die Tränen nicht verkneifen und verdeckte mit den Händen sein Gesicht



„Ach Gott, jetzt bin ich wieder Single“, jammerte er.



„Single? Was ist denn mit deiner Freundin passiert?“



„Ich habe sie im Dampfkessel verbrannt“, antwortete Heinrich, „Wie soll ich nur in Zukunft einen Kampf um Rang und Ehre bestreiten können?“



„Verbrannt? Etwa komplett?“ fragte Albrecht ungläubig. Heinrich nickte beschämt, ohne aufzublicken.



„Kopf hoch“, sagte Albrecht und klopfte dabei Heinrich auf die Schulter, „Auch andere Mütter haben Töchter, die der Königin wie aus dem Gesicht geschnitten sind.“



„Aber sie sind so teuer!“



„Dann musst du eben mehr leisten für die Gesellschaft. Ich bin sicher, dass du das schaffst.“



Heinrich blickte auf und lächelte dabei Albrecht zu, der zurücklächelte und ihn umarmte.



„Danke, Albrecht. Du bist ein wahrer Ritter“, sagte Heinrich und weinte vor Rührung. Die Umstehenden fingen an zu jubeln und bestätigten damit das Glück derjenigen, die nicht ausgestopft und verbrannt wurden.



 






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