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Die App für Zivilcourage

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Du stehst nachts allein am Bahnsteig. Fünf Besoffene brüllen zu dir rüber. Du fühlst dich unwohl. Aber die Polizei rufen? Wäre irgendwie übertrieben. Vier Studenten aus Karlsruhe haben eine App entwickelt, die in solchen Situationen helfen soll: Zwischen Unwohlsein und aktuer Bedrohung kann man mit "EnCourage" Helfer in der Nähe alarmieren. Die App soll Situationen entschärfen, bevor sie gefährlich werden – und ist jetzt für einen internationalen Entwicklerpreis nominiert. Ein Anruf bei Rene Brandel, 19, einem der vier Gründer.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


 
jetzt.de: Gratuliere, am Sonntag fliegt ihr nach Seattle, zum Finale des "Imagine Cup". Das ist ein Innovationswettbewerb, der das Ziel hat, mit Erfindungen große Probleme der Welt zu lösen. Welches Problem löst eure App?
Rene: Eine Freundin von uns wurde letztes Jahr nachts von einem Mann verfolgt. Sie schickte meinem Kollegen dann eine SMS, aber er konnte natürlich nicht helfen. Solche Situationen entschärft unsere App: Indem sie jemanden alarmiert, der gerade in der Nähe ist.
 
Die Polizei sagt: Eure Freundin hätte die 110 anrufen sollen.
In manchen Situationen weiß man aber nicht, ob wirklich was passiert. Nur weil jemand in der Dunkelheit hinter mir hergeht, kann ich ja nicht gleich die Polizei rufen. Die App ist eher für Situationen, in denen ich spüre, dass etwas passieren könnte. Wo es schon reichen würde, wenn jemand in der Nähe ist.
 
Die klassische Situation: Ich muss nachts am Park entlang und halte mir das Handy ans Ohr, damit alle denken, ich telefoniere?
Richtig. Wir haben dafür das Konzept des "Dead man’s switch" eingebaut: Wenn ich den Alarmbutton in der App drücke, passiert erstmal nichts. Erst wenn ich ihn loslasse, wird der Alarm ausgelöst. Ich kann also durch den Park gehen, den Knopf drücken, und wenn alles gut ist, breche ich den Vorgang danach ab. Aber falls mir jemand das Handy aus der Hand schlägt, kommt automatisch Hilfe.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 "Hilfsbereite Menschen mit denen verbinden, die Hilfe brauchen" - Rene Brandel, 19, entwickelt ein Netzwerk für Notrufe. Er studiert Informatik am Karlsruher Institut für Technologie.  

Arno Helfrich, der Leiter der Abteilung Prävention und Opferschutz im Polizeipräsidium München sagt: Ruf lieber uns. Mit der App verschwendest du wichtige Sekunden.
Wir wollen ja keine Alternative zum Polizeinotruf sein. Wir testen gerade auch einen zusätzlichen Alarmknopf, der die Polizei informiert. Die App könnte auch für die Polizei nützlich sein: Denn ein Alarm ist schneller als ein Anruf.
 
Man muss bei der App die Art des Notfalls angeben. Wie soll das schnell gehen?
Das funktioniert auch per Spracherkennung. Das geht schneller als ein Anruf. Und genauer: Wir erfassen deine GPS-Position, auch wenn du zum Beispiel wegläufst. Abgesehen davon erfüllen wir mit der App alles, was die Polizei zum Thema Zivilcourage empfiehlt: Umstehende aktiv und direkt um Mithilfe bitten. Dem Opfer helfen. Und als Zeuge zur Verfügung stehen.

Opfer und Helfer müssen die App installiert haben. Wenn immer jemand in der Nähe sein soll, braucht ihr viele Nutzer.
Stimmt, wir peilen eine Abdeckung von acht Prozent der Smartphonenutzer an. Damit hätten wir ein Netz, das dicht genug wäre.

"Oft hört man einen Schrei und weiß nicht: Ist das ein Notfall? Die App sagt dir: Ja, und du kannst helfen."


Wie realistisch ist das?
In Umfragen haben wir festgestellt: Sehr viele Leute würden gerne helfen. Übrigens mehr, als es Leute gibt, die gerne Hilfe in Anspruch nehmen würden. Die App soll sich dann auch von alleine weiterverbreiten: Wenn man Freunde zur App einlädt, oder man mehrmals jemandem geholfen hat, bekommt man kostenlos die Pro-Version, mit der man zusätzliche Funktionen nutzen kann. Die kostet sonst 1,99 Euro jährlich.
 
Damit setzt ihr eine Art Belohnung für Leute aus, die oft zu Hilfe eilen. Davor warnt Kommissar Helfrich von der Münchner Polizei. Er befüchtet, dass dadurch selbsternannte Hilfssheriffs motiviert werden, Täter zu jagen.
Wir rufen ja nicht zu einem gewaltvollen Eingreifen auf. Es geht um Situationen, in denen oft schon die Präsenz eines Dritten den Täter davon abhält, etwas zu tun. Wir haben mehrere hundert Menschen befragt. Es gibt sehr viele gute Menschen, die helfen wollen. Die wollen wir ansprechen. Das ist so ähnlich wie bei der Freiwilligen Feuerwehr - die Zivilcourage steht im Mittelpunkt.
 
Würden diese Leute in kritischen Situationen nicht ohnehin eingreifen?
Klar, wir wollen ja auch niemanden zum Helfer missionieren. Die App bringt hilfsbereite Menschen mit denen zusammen, die Hilfe brauchen. Oft hört man irgendwo einen Schrei, ohne zu wissen: Ist das jetzt ein Notfall? Unsere App sagt dir: Dort drüben ist jemand, der braucht jetzt deine Hilfe. Aus diesem und jenem Grund.
 
Ist es das, was fehlt, wenn bei U-Bahn-Pöbeleien niemand eingreift?
Genau darum geht es. Wir haben uns psychologisch beraten lassen, wie man diesen "Bystander-Effekt" überwinden kann. Die persönliche Ansprache ist wichtig. Wenn die App mir sagt: "Rene, wir wollen, dass du jetzt hilfst! Dominik braucht Hilfe", dann überwindet sie damit eine psychologische Barriere, die mich sonst vielleicht hindern würden, etwas zu tun. Ich habe plötzlich einen klaren Auftrag.
 
Im Finale des "Imagine Cup" stehen in eurer Kategorie elf Teams aus anderen Ländern mit ihren Innovationen gegen euch. Der Gewinner bekommt 50.000 Dollar. Wie schätzt du eure Chancen ein?
Wir haben viel Respekt vor den anderen Teams. Aber ich glaube, wir haben hier etwas, das das Leben von vielen Menschen positiv verändern kann. Und selbst wenn wir nicht gewinnen – wir haben schon Angebote von Investoren, die wir uns nach dem Finale in Ruhe anschauen werden.

Nach der Finalrunde nächste Woche wird der Preis Anfang August in Seattle verliehen.

Text: jan-stremmel - Foto: Pixelhans/photocase.de, privat

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