Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Der Apfel, der durchs Fenster fiel

Text: dragony
Am Dorfrand wohnte ein Mann in einem Lebkuchenhaus. An den Wänden klebten Mandelstücke und die Fenster waren aus Zuckerguss. Sie waren so milchig, dass niemand hineinschauen konnte, um herauszufinden, ob auch der Mann ein Lebkuchenmann war. Der Weg ins Dorf führte über Obstbaumwiesen in einiger Entfernung an dem Haus vorbei. Auf ihrem Schulweg sahen die Dorfkinder es im Winter hinter den kahlen Bäumen stehen und im Frühsommer blitze es durch die blühenden Apfelbäume hindurch.

Den Mann sah man nie im Dorf. Nur manchmal ging er im Sommer zwischen den Apfelbäumen auf der Wiese umher, mit ungelenken Schritten so als hätten seine Beine keine Gelenke, sondern wären aus einem Stück Lebkuchen gebacken. Aber wenn er auf der Wiese die heranreifenden Äpfel an den Bäumen betrachtete, traute sich niemand länger stehen zu bleiben oder gar das Wort an ihn zu richten. Ein Mann, der in einem Haus aus Lebkuchen wohnte,  war womöglich ein Zauberer und kein Kind im Dorf wollte selbst  verzaubert werden.



Die Erwachsenen erzählten, dass es früher anders gewesen war. Der Mann sei morgens ins Dorf gegangen, um seine Äpfel auf dem Markt zu verkaufen und habe abends sogar manchmal mit den anderen in der Dorfschenke gesessen. Aber das war so lange her, dass sich die Erwachsenen nicht sicher waren, ob sie sich daran erinnerten oder es bloß von ihren Großeltern gehört hatten, als sie selbst noch Kinder waren. Die Kinder im Dorf rätselten oft, was wohl seit dieser Zeit passiert war und aus dem Mann einen Lebkuchenmann und aus seinem Haus ein Lebkuchenhaus gemacht hatte. Es konnte doch nur ein böser Fluch gewesen sein. Denn ist es nicht schrecklich, in einem Haus aus Lebkuchen zu wohnen, das jeder einfach aufessen kann?



Die Kinder wohnten in Häusern aus Stein und Holz, ein Mädchen wohnte gar in einem alten rostigen Wohnwagen. Nichts davon konnte man essen. Sie konnten gut verstehen, dass der Mann nicht mehr ins Dorf ging, schließlich musste er wohl immer fürchten bei seiner Rückkehr statt seines Hauses nur noch ein paar Krümel vorzufinden. Übrig gelassen von einem hungrigen Wandersmann oder den Tieren im Wald oder einem armen Bettler, der für den Tag kein Geldstück erbetteln konnte. Die jüngeren Kinder hatten Mitleid mit dem Mann, aber die älteren schüttelten manchmal fragend den Kopf. War das Haus denn wirklich aus Lebkuchen? Ja, man konnte es sehen durch die Apfelbäume, es bestand kein Zweifel an den Lebkuchenwänden, an den Mandelstücken darauf und den Zuckergussfenstern. Aber wie konnte es bloß der Sonne im Sommer, dem Regen im Herbst und dem Schnee im Winter standhalten?



Auch gingen die älteren Kinder jeden Tag mit klopfendem Herzen an dem Lebkuchenhaus vorbei, wenn sie in die nahe gelegene Stadt zur Schule liefen. Kein Mädchen und kein Junge hätte es gern zugegeben, aber sie fürchteten sich vor dem Mann mit seinen ungelenken Schritten und seinem grimmigen Blick, wenn er zwischen den Bäumen umherwanderte. Eine Zeitlang verboten sie einander sogar nur in die Richtung des Hauses zu schauen, da sie fürchteten, dann selbst in Lebkuchenkinder verzaubert zu werden. Also rannten sie beinahe über die Schotterstraße bis sie außer Sichtweite waren und schon die ersten Häuser der Stadt erkennen konnten. Je schneller sie an der Apfelbaumwiese und dem Haus vorbeirannten, umso sicherer waren sie sich danach, dass es doch wirklich aus Lebkuchen war. Immer gab es ein Kind, das doch einen kurzen Blick zum Haus geworfen und ganz genau die Lebkuchenwände oder die Zuckergussfenster oder die Mandelstückchen gesehen hatte. Aber nach einer Weile kamen die Zweifel zurück.



Er lebte einsam und verlassen in seinem Haus am Dorfrand. Die Einsamkeit war in den letzten Jahrzehnten in die Fugen zwischen den Bodendielen gekrochen, hatte sich hinter seinen Büchern auf den Regalen breit gemacht, drang aus jeder Schublade, die er öffnete und breitete sich im Schlafzimmer wie eine Staubwolke aus, wenn er morgens seine Bettdecke aufschüttelte. Aber er hatte sich Jahr um Jahr an sie gewöhnt. Die Einsamkeit war überall und genau deswegen, konnte er nicht mehr erkennen, ob sie da war oder nicht. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen den einzelnen Stunden des Tages, den einzelnen Tagen des Jahres und den einzelnen Jahren seines Lebens seit dem Tag, an dem sie zum ersten Mal an seine Tür geklopft hatte. Die Stille im Haus, in der nur das Knarzen der Dielen hörbar war, wenn er durch die Zimmer ging, dröhnte nicht mehr in seinen Ohren. Die leeren Stühle um den Esstisch konnten ihm nicht mehr das Herz zerreißen, weil er sie längst im Ofen verfeuert hatte und nur sein eigener übrig geblieben war. Die Fenster waren mit der Zeit staubig geworden, sodass es keinen Unterschied mehr machte, ob die Kinder über die Obstwiese sprangen oder die Frau Fallobst in einen Korb legte. Er hätte es durch die trüben Scheiben doch nicht gesehen. Das Vergessen hatte lange auf sich warten lassen. Die Erinnerung an die anderen Tage hatte anfangs geschrien und als sie später noch leise wimmerte, hatte es sich endlich über sie gelegt und sie war verstummt.



Geblieben war ihm der Rhythmus der Sonne und des Wetters. Er schlug mit dem Sonnenaufgang die Augen auf, füllte seinen Tag mit Arbeit im Garten hinter dem Haus und ging zu Bett, wenn es dunkel wurde. Er schaltete nie das Radio ein, er ging nicht über den Schotterweg ins Dorf und er brauchte niemanden. Jeden Sommer fasste er einmal den Entschluss, im Herbst wieder die Äpfel zu ernten und sie auf dem Markt zu verkaufen. Sein Herz schlug bei diesem Gedanken unwillkürlich schneller und wenn er über die Wiese ging, um die noch unreifen  Äpfel zu betrachten, verspürte er einen Stich in seiner Brust. Jedes Jahr reiften die Äpfel bis zum Herbst heran, hingen prall und schwer an den Bäumen und fielen ungehindert zu Boden bis sie vor dem ersten Schnee weich und faulig die ganze Wiese bedeckten.



Es war Herbst und der Mann saß wie an jedem der Tage nachmittags in seiner Küche, um einen Tee zu trinken und ein Stück Brot zu essen, als er plötzlich einen dumpfen Schlag gegen das Küchenfenster hörte. Er sah von seiner Tasse auf. Das dünne, dreckige Glas des Fensters klirrte, zersplitterte über den Fußboden und ein großer Apfel plumpste in die Küche, kullerte noch ein Stück und blieb schließlich in Mitten der Glassplitter liegen. Durch das Loch im Fenster fiel auch ein Sonnenstrahl und legte sich auf den Apfel, ließ die Glassplitter glitzern und streifte die linke Hand des Mannes, die er vor Schreck von der Teetasse gelöst und auf die Stuhlkante gelegt hatte.



Draußen lief der Junge davon, der den Apfel geworfen hatte. Es war also kein Lebkuchenhaus und es waren auch keine Zuckergussfenster, sondern richtige aus Glas. Auf dem Rückweg von der Schule hatten die anderen Kinder ihn auserkoren, da er der mutigste war. Er sollte endlich die Zweifel ausräumen und nachsehen, ob wirklich ein Lebkuchenhaus hinter den Apfelbäumen stand. Der Junge war schnellen Schrittes über die Wiese gegangen und hatte auf seinem Weg zwei Äpfel in seine Jackentaschen gesteckt. Er war ein mutiger Junge, aber doch nicht mutig genug, um bis zur Hauswand zu gehen, gegen sie zu klopfen oder gar ein Stück von ihr zu probieren. Stattdessen wollte er die Äpfel gegen ein Fenster werfen - wäre es ein Glasfenster, würde es klirrend kaputt gehen, wäre es aber aus Zuckerguss würde es wohl einfach zerbrechen.



Beim zweiten Apfel klirrte das Fenster und zersplitterte. Der Junge lief davon und endlich konnten die Kinder sicher sein, dass es kein Lebkuchenhaus war sondern ein Haus mit Fenstern aus Glas, von denen nun eines zerbrochen war. Der Junge war froh, die Mutprobe überstanden zu haben, aber nach einer Weile mischten sich in die Erleichterung das schlechte Gewissen und das Gefühl, etwas Dummes angestellt zu haben. Als seine Mutter und sein Vater beim Abendbrot fragten, was denn mit ihm los sei, sprudelte das Erlebte geradezu aus ihm heraus.



Die Eltern mussten heimlich über das Lebkuchenhaus schmunzeln, aber ein kaputtes Fenster blieb ein kaputtes Fenster.  Also nahm der Vater den Sohn bei der Hand und sie gingen die Schotterstraße entlang, um den Schaden anzuschauen und eine Entschädigung anzubieten. Das Loch im Küchenfenster war von außen notdürftig mit einer Plane und einigen Holzlatten geflickt. Der Vater klopfte kräftig gegen die Eingangstüre.



Drinnen saß der Mann wieder in seiner Küche, in der es nun schon fast dunkel war. Die Sonne hatte den ganzen Nachmittag durchs kaputte Fenster hereingeschienen und zum ersten Mal nach vielen Jahren hatte der Mann den Geruch nach Einsamkeit wieder wahrgenommen bevor dieser durchs Fenster entwichen war. Schließlich hatte er die Latten und die Plane vors Fenster genagelt. Er hatte das Fenster nach draußen nicht öffnen wollen, der Apfel war grundlos zu ihm in die Küche gefallen. Es schien nun aber als wolle dieser Apfel sagen:  Ein Loch im Fenster ist eines, aber die Türe wieder zu öffnen ist etwas anderes.






Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: