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Balkongespräche

Text: leinikki

Wie reagiert man, wenn einem eine sehr nahe Freundin erzählt, dass sie vergewaltigt wurde?



Es war 11 Uhr, ein Abend im Juni, und wir saßen in unsere Decken gehüllt auf einem Balkon irgendwo in Thüringen. Die Lichter der Stadt leuchteten zu uns herauf.



Ich wusste das H. bis jetzt ein sehr bewegtes Leben hatte. Ich wusste von einem Krankenhausaufenthalt, und das das Verhältnis zum Bruder nicht das Beste war. Und um 11 Uhr abends im Dunkeln fragte ich H. nach ihrer Lebensgeschichte.



Es ist das erste Mal passiert, als sie etwa 8 war. Ein Bekannter vom Sport. Er etwa 50. Sie hatte sich nicht getraut etwas zu sagen. Aus Angst vor ihm. Angst ihre Eltern, die schon eine brüchige Beziehung hatten, zu belasten. Es ist immer wieder passiert. Bis zu dem Sommer in dem sie mehrmals versucht hat sich umzubringen. Erfolglos. Da war sie 16. Das erste Mal hat ihr Bruder sie aus dem Krankenhaus geholt. Das könne sie den Eltern doch nicht antun. Dann war sie irgendwann 8 Monate in der Geschlossenen.



Nebenbei erzählt sie von einer Außenseiterrolle in der Grundschule. Besten Freunden die wegziehen und zu denen der Kontakt abbricht. Freundeskreise, in denen sie nicht länger als ein paar Monate sein kann, weil dann die Fragen kommen warum sie dauernd so depri ist. Dann der Freundeskreis in dem niemand mehr fragt. Irgendwann hat sie für sich das Label „verrückt“ gefunden, weil niemand so genau weiß was das ist. Sie erzählt von Freunden die sie erfunden hat, damit sie unbemerkt ein Wochenende nicht zu Hause sein kann. Stattdessen ist sie bei ihm. Aus Angst. Aus Demut. Als ich frage streicht sie das „Relationship“ aus „abusive Relationship“. Wenn sie bei männlichen Lehrern im Unterricht sitzt kriegt sie manchmal Panikattacken. Sie kann mit befehlenden und bestimmenden Formulierungen nicht umgehen. Es „triggert“ sie. Sie erzählt von verlorenen Konstanten. Freunde die Suizid begangen haben und ihre Essstörung waren nur Nebensächlichkeiten, bei denen sie nicht die Kraft hatte sich damit auseinanderzusetzen. Ihr 18. Geburtstag an dem ihr 2 Essgestörte einen Kuchen gebacken haben, den niemand gegessen hat, weil alle dort irgendwie ein fehlgeschlagenes Verhältnis zum Essen gehabt haben. Es war ein schöner Geburtstag meint sie. Sie erzählt, dass sie nie wusste was eine normale Beziehung ist. Das sie es manchmal für normal hielt. Von unverbindlichem Sex im Alter von 13. Von einer Beziehung mit einer Krebskranken, weil es einfacher war zusammen traurig zu sein als allein. Von Verletzungen die er ihr zugefügt hat, und von ihren Ausreden dafür. Davon, dass sie seit der 8. Klasse nicht mehr regelmäßig in der Schule war. Sie schildert nichts zu genau und doch habe ich Tränen in den Augen. Sie meint, dass ich fragen soll wenn ich Fragen habe.



Wir sitzen immer noch draußen im Dunkeln. Ich und diese kleine zierliche Person. Wir starren an einander vorbei die Häuser an, und zählen die vorbeifahrenden Krankenwagen. Sie hat einen mehr gesehen als ich. Sie sagt, dass ich meine eigene Probleme und Erfahrungen im Vergleich zu ihren nicht klein reden soll. Das sie immer wieder überrascht und stolz ist wie ich es schaffe damit umzugehen, und ich lächel traurig.



Die Lichter leuchten und wir reden darüber wie man unter Wasser atmen kann. Ob dumme Menschen glücklicher sind, weil sie das Leid nicht sehen und mit ihrem einfachen Leben zufrieden sind. Über den Sinn zu leben. Nicht den Sinn des Lebens, sondern die Abwägungen ob es besser ist zu leben oder tot zu sein. Reden über Beziehungen und falsche Zitate.



Ich breche auf und erzähle das erste Mal jemanden von der Nacht mit H [ein Anderer] vor 4 Jahren. Sonst habe ich dafür nie die Worte gefunden, doch vor ihr fällt es mir leicht. Ich rede von meinen widersprüchlichen und problematischen Gefühlen für M., und sie verurteilt mich nicht. Bezeichnet es nur als ungesundes Rauchverhalten. Ich verspreche ihr, dass ich mir Mühe geben werde sie mit diesem Wissen nicht anders zu behandeln.



Sie sagt sie habe noch nie jemanden die ganze Geschichte so am Stück erzählt, und ich bin ein wenig stolz ihre Vertraute zu sein.  Wir sitzen immer noch draußen und zählen die Krankenwagen. 4 oder 5 in den paar Stunden die wir dort saßen und einmal offen waren.



We both know that the nights were mainly made for saying things that you can't say tomorrow day



Sie ist jetzt 20. Und morgen werden H und ich beide unser Abitur entgegen nehmen. Ich bin stolz auf sie.



 



I just needed to get this out there.

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