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Moralapostel

Text: MarisaKurz

Vielleicht geht es euch auch so. Mich stören zunehmend diese passiv-aggressiven Moralapostel mit fahler Haut, die anderen den Untergang der Welt vorwerfen. Erst vor kurzem habe ich wieder so einen getroffen: Ganz unbedarft frage ich im Veganerladen ob der niedliche Hund, der da so rumsitzt, jemandem vom Personal gehört. „Alle Mitarbeiter hier sind richtige Veganer und haben natürlich keine Haustiere“, antwortet der Kassierer. Und schaut mich an als wäre ich ein Kinderschänder.



Sind Hundis Herrchen und ich für den Veganerladenmitarbeiter jetzt wirklich Menschen zweiter Klasse? Wird der Akt des „Im-Veganerladen-Kaufens“ durch den moralisch verwerflichen Akt des „Haustier-Befürwortens“ aufgehoben? Darf jemand, der kein richtiger Veganer ist, überhaupt im moralisch überlegenen Veganersupermarkt einkaufen? Und was ist, wenn der Hund kein Veganer ist?? Wenn ich mich richtig erinnere, hat meine Mitbewohnerin erst neulich Tofu im Veganerladen gekauft. Und sie ist nicht einmal Vegetarierin. Darf sie das oder ist das wie Kirchenschändung?



Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich sie nur zu gut verstehe, diese militanten Weltverbesserer. Ich finde es bestimmt genauso scheiße, dass die meisten Leute sich kaum für ihre Mitmenschen, ihre Mit-Lebewesen oder Umwelt interessieren – und selbst wenn sie es tun viel zu faul und ignorant sind, sich für sie einzusetzen. Es macht mich sauer und traurig und oft bin ich desillusioniert und frage mich, ob ich denn die einzige Person bin, die dem Paketboten auf der Treppe entgegenkommt. Und ja, ich bin der Meinung, dass Veganer Recht haben. Dass Eier mit Bacon so verdammt geil schmecken macht es einfach nicht richtig Tiere zu quälen und umzubringen. Doch einige Moralpäpste übersehen, dass sie mit ihrer selbstgerechten Art der guten Sache schaden, die sie eigentlich voranbringen wollen.



In unserer Welt ist es kaum möglich einen Schritt zu tun, der nicht in irgendeiner Form moralisch angreifbar ist. Und davor, einen dieser Schritte zu tun, ist auch der Veganerladenmitarbeiter nicht geschützt. Ich meine, wir nehmen Kurzstreckenflüge und tragen Klamotten, die Bangladeschische Kinderhände genäht haben. Wir kaufen in Scientologen-Supermärkten Fleisch aus Massentierhaltung und tragen Fell an unseren Krägen. Wir kaufen von Marken, die mit dürren Models werben und fahren mit dem Auto zur Arbeit. Wir qualmen andere Leute voll, schauen Pornos und machen Urlaub in Touristenhöllen. Wir kaufen abgepackte Wurst in Bärchenform oder eine Mango, die um die ganze Welt geflogen ist. Wir essen Schokolade von Konzernen, die anderen Wasser stehlen und vergessen unsere Auffrischimpfung. Wir haben mindestens ein Gerät in der Wohnung auf Standby, werfen unsere Socken in den Trockner und duschen zu lange. Wir haben solche Angst davor von anderen intolerant genannt zu werden, dass wir Ideologien den Hof machen, die Grund- und Menschenrechten widersprechen. Wir lachen mit, wenn der Chef einen Frauenfeindlichen Witz macht. Unsere Einkaufstasche vergessen wir ständig und nehmen am Ende doch die Plastiktüte im Supermarkt. Wir machen Europa zum forschungstechnischen Rückstandskontinent, weil wir Politiker dazu drängen Technologien zu verbieten, die wir nicht einmal verstehen. Wir übertreiben wenn wir von unserem Wochenende erzählen und rennen vor Kinderaugen bei Rot über die Ampel weil wir die Neue von unserem Ex zu lange auf Facebook gestalkt haben um pünktlich aus dem Haus zu gehen. Wir tragen Jeans im Used-Look und schauen Filme von vermeintlichen Kinderschändern. Wir haben lieber ein freies Wochenende, als uns in einem Ehrenamt zu engagieren und kaufen lieber ein neues Handy, als zu spenden. Wir gehen in den Zoo und kaufen eine Dose Cola, weil die Cola aus der Dose einfach besser schmeckt. Wir wählen Parteien, die den Konsum von Kinderpornographie in den eigenen Reihen vertuschen wollen und spicken bei einer Prüfung. Wir sind zu faul uns einen Organspendeausweis zu besorgen und der Biomüll fängt immer an zu stinken, wenn man anfängt ihn zu trennen.



Dass der Veganerladenmitarbeiter auf einige seiner Schritte achtet ist lobenswert, sogar erstrebenswert, aber sich deswegen vor anderen als moralische Autorität aufzuspielen, ist doch etwas beliebig und selbstgerecht. Wir kommen nicht weiter, wenn wir uns im Fairtrade-Strickpulli in die Ecke stellen und mit dem Finger auf den zeigen, der seinen Kühlschrank nicht abgetaut hat.



Jeder von uns begeht moralische Fehler. Und meine Hoffnung ist, dass wir alle versuchen so wenige wie möglich zu begehen. Doch das funktioniert nicht mit giftigem Tonfall und schlechter Laune. Ich habe meinen Kühlschrank ewig nicht abgetaut. Und sicher habe ich mehrere Sachen darin, die ich am Ende nicht mehr essen werde. Aber was ist jetzt schlimmer: diese Sachen wegzuschmeißen oder Kühlschrankenergie an sie zu verschwenden? Und während ich mir diese Gedanken mache – vergeude ich da nicht Zeit, in der ich irgendeine Online-Petition unterschreiben könnte?



Was ich sagen will: achtet auf eure Schritte so gut es geht, motiviert die Menschen um euch herum dasselbe zu tun. Aber seid doch bitte lieber lieb zueinander.

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