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Murakami im Germeringer Hallenbad

Text: matesino

Ich mag die Geschichten von Haruki Murakami und die Weise wie er sie erzählt. Sie fangen banal an und werden von Seite zu Seite fantastischer. Da sprechen Schafe und Katzen, Menschen verschwinden in Brunnen und Bildern, Parallelwelten öffnen sich und ziehen dich in ihren Bann. Manchmal geschieht auch nichts von alledem und trotzdem bleibt es spannend.



Zwar schreibt Murakami einfach, doch seine Prosa ist niemals flach. Obwohl seine Geschichten die Leere des Daseins verhandeln sowie dichte Wolken aus Melancholie über einen weben und schweben lassen, bergen sie auch etwas zutiefst Tröstliches in ihrem Inneren. Nach der Lektüre wird man zu einem fröhlicheren Menschen. Und versteht sich. Manche zumindest. Andere wiederum nicht.



Am bewundernswertesten empfinde ich Murakamis Disziplin. Die Art, wie er sein Leben gestaltet, um ein Leben als Schriftsteller führen zu können. Tag für Tag steht er mit der Sonne auf, schreibt vier bis fünf Stunden, läuft danach zehn Kilometer, kocht zu Mittag Miso-Suppe oder etwas Ähnliches, geht im Anschluss Schwimmen und hört am Abend Jazz, Klassik- oder Rockmusik. Wenn die Sonne unter geht, geht auch er ins Bett. Immer die gleiche Routine. Immer der gleiche Ablauf. Nie weicht er davon ab. Selbst wenn seine Frau das womöglich gerne hätte. Und das ist vielleicht auch seine einzige Schwäche.



Obwohl sie nicht so schöne Geschichten schreibt wie Murakami, mag ich auch meine Tante. Eigentlich schreibt sie gar nichts, außer SMS ohne Leerzeichen. Behördenbriefe verfasse ich für sie. Dafür macht sie leckeres Tiramisu und ist sehr hilfsbereit. Wenn ich ihr Auto brauche, leiht sie es mir ohne Zögern. Und wenn ich eine Delle oder einen Kratzer reinfahre, akzeptiert sie das stoisch und übernimmt sogar den Schaden. Frage lieber nicht weiter.



Dennoch gibt es Dinge, die mich an meiner Tante stören. Sie mischt sich ständig in Sachen ein, redet ununterbrochen und weiß immer alles besser. Obwohl man ihr sagt, sie soll etwas lassen, macht sie es trotzdem.



Einmal hat sie unsere Küche komplett umgeräumt, so dass nichts mehr an seinem Platz war. Weil es sich so gehöre, meinte sie. Danach tranken meine Frau und ich aus Tellern und aßen aus Tassen.



Ein anderes Mal hat sie die Hosen unserer Tochter um so viel gekürzt, dass die Kleine damit jedes Hochwasser durchqueren konnte, ohne am Bund nass zu werden. Praktisch, aber nicht sehr modisch. Und genug der Vorgeschichte.



Der Zufall wollte es, dass Haruki Murakami eine Lesung in Germering hatte. Seine dritte in den letzten zehn Jahren. Er konnte nicht erklären warum, aber irgendetwas zog ihn magisch an diesen unscheinbaren Ort. War es das Schicksal, der Zufall oder der Kreisverkehr an der Oberen Bahnhofstraße, er hatte keine Ahnung. Doch er spürte, dass hier eines Tages sein Leben eine dramatische Wende erfahren würde. Oder zumindest eine komische Note. Man wusste erst, was geschah, wenn es passierte.



Bevor die Lesung am Abend stattfinden sollte, ging mein Lieblingsschriftsteller wie gewohnt ins Germeringer Hallenbad, um routinemäßig ein paar Bahnen zu schwimmen. Das hatte er die zwei Male zuvor so getan, so tat er es auch an diesem Tag. Immer der gleiche Ablauf. Tag für Tag. Nur so schafft man große Prosa, preisverdächtige Literatur und ein breites Kreuz als kleiner Mann.



Ein paar Bahnen neben Murakami hatte meine Tante ihren Schwimmkurs. Obwohl sie nur zehn Kilometer vom Meer entfernt aufgewachsen war, konnte sie auch mit Mitte sechzig nicht richtig schwimmen. Aber sie konnte das um einiges besser nicht als die meisten anderen Nichtschwimmer.



Für kleine Tanten, nun, das konnte sie genauso gut wie alle anderen und plötzlich musste sie auch ganz dringend, so dass sie den Kurs unterbrach und auf die Frauentoilette zusteuerte.



Als sie durch die Tür trat, verzog sie das Gesicht. Ihrer Meinung nach war die Toilette furchtbar verschmutzt und völlig unbenutzbar. In Wirklichkeit war das gar nicht so, aber die Realität und der Grad der Sauberkeit liegt immer im Auge des Betrachters. In dem Fall, in dem Auge meiner Tante.



Glücklicherweise steht vor der Tür ein Putzwagen, dachte sie, nahm Lappen und WC-Reiniger, und begann in ihrem Wahn, die Damentoilette des Germeringer Schwimmbades zu putzen.



Zu dieser Zeit schwamm Murakami seine dreiundreißigste Bahn. Langsam verspürte auch er den Ruf der Natur. Er atmete tief durch und schluckte ein wenig Chlor. Ich schwimme noch routinemäßig sieben Bahnen, bevor ich gehe, dachte er. So habe ich das auch die beiden Male zuvor getan, so bin ich es im Germeringer Hallenbad gewohnt. Vierzig Bahnen schwimmen, eine Runde pinkeln. Am Abend lesen. Ein großartiger Autor bleiben. Gut. Super. Danke.



Nachdem meine Tante mit der Reinigung der Damentoilette fertig war und nichts mehr an seinem Platz war, aber zweifelsohne alles blitzte und blankte, kam ihr der Gedanke, dass die Herrentoilette ebenfalls ihre Hilfe bräuchte. Wer, wenn nicht ich, soll da Sauberkeit und Ordnung schaffen, dachte sie und ging eine Tür weiter.



Einen Augenblick später schwamm Murakami seine vierzigste Bahn und war im Anschluss bereit, seine dunkelblaue Speedo runterzulassen, um sich zu erleichtern. Er machte sich auf dem Weg zur Herrentoilette und dachte in dem Moment womöglich an alles, nur nicht an das Folgende. Als er die Tür zum Klo öffnete, begegnete er meiner Tante, die sich gerade am linken Urinal hygienetechnisch zu schaffen machte.



„Oh.“
„Oh ja. Das Ding ist so verschmutzt hier, ich musste einfach sauber machen.“
Eine merkwürdige Stille nahm den Raum ein.
„Sie verstehen mich wohl nicht. Ist ja auch nicht so einfach als Chinese, was?“
Murakami blickte verwirrt. Er verstand wirklich nicht. Denn sonst hätte er wohl meiner Tante geantwortet, dass er doch Japaner sei.



„Sprechen sie mir nach. Sagen sie mal: Guten Tag.“
„Guuuteeen Taaaag.“
„Mein Gott, sie sprechen das ja völlig falsch aus. Nochmal: Guten Tag.“
„Guuuuteeen Taaag.“
„Guten Tag, heißt das. Tun sie nicht so als ob das arabisch wäre.“



Wer ist diese seltsame Frau, die mir versucht Deutsch beizubringen, während sie das linke Urinal schrubbt, dachte Murakami und wirkte hilflos.



Ah, mit Gesten. Wie wäre es mit Gesten. Die universale Sprache der Welt. Er deutete mit seinen Händen nach unten und drückte seine Beine aneinander.
„Sie müssen wohl ganz dringend“, sagte meine Tante.
Murakami nickte.



„Das muss ich auch. Schon die ganze Zeit. Mein Gott, das ganze Wasser, das verleitet einen aber auch dazu. Überall fließt und plätschert es. Aus dem Whirlpool, aus den Duschen. Wenn die Kinder vom Dreimeterbrett springen. Aber wissen sie was? Bevor man sich hier nicht in jeder Fliese spiegeln kann, heißt es abwarten und geduldig bleiben. Da geht niemand pinkeln. Finden sie nicht auch, Herr ...?“



Murakami schwieg. Er war bekannt als stiller Mensch, der wenig sprach, erst recht, wenn es keinen Sinn ergab. Was diese Frau von sich gab, machte für ihn auch wenig Sinn. Nicht nur deshalb, weil er es nicht verstand.



Aber eines war auch ihm so klar wie die Sitze der Frauentoilette, nachdem meine Tante sie gereinigt hatte.
Wenn die Blase drückte, sprudelten früher oder später auch aus dem schweigsamsten Menschen die Worte nur so heraus. Wie wäre es mit Englisch, dachte er. Ja, Englisch ist gut. Ich versuche es damit.



„I have to pee. Urgently.“
„Keine Ahnung, was sie wollen, aber sprechen sie mir nach:
„Ich muss dringend pinkeln, aber bevor es sich nicht spiegelt, verkneife ich es mir.“
„Ich muuuussss driiiiineeeend piiiiiiiiinkeeeeeeln, abeer,...“
„Das können sie besser, mein Herrr. Und noch einmal zusammen: ich muss dringend pinkeln.“
„Ich muuuussss driiiiineeeend piiiiiiiiinkeeeeeeln!“



Murakami musste wirklich immer dringender, aber die seltsame alte Tante schrubbte immer heftiger. Und wurde immer fordernder.
„Wiederholen sie es nochmal. Wiederholen sie es nochmal.“
Die Frau machte ihm Angst und so tat er, was sie sagte.
„Piiiiinkeeeeln. Piiiiinkeeeeln. Piiiiinkeeeeln.“



Aber warum, bei den japanischen Haiku-Dichtern, musste sie ausgerechnet das linke Urinal putzen, dachte sich Murakami, der in der Wiederholung des immer Gleichen, durchaus etwas Philosophisches fand. Ich bin es gewohnt, im Germeringer Hallenbad immer in das linke zu pinkeln. Nicht das mittlere und nicht das rechte, nein, immer nur in das linke Urinal. Lange halte ich es nicht mehr aus.



In solchen Momenten trennen sich die Männer von den Mäusen. Jetzt musste etwas passieren. Und weil Murakami trotz seiner bescheidenen Größe kein kleines Nagetier sein wollte, sprang er über seinen Schatten und einen Schritt nach vorne. Obwohl es seiner Gewohnheit widersprach, auf welche Weise er auf der Herrentoilette des Germeringer Hallenbads zu pinkeln pflegte, nahm er das rechte Urinal. Und zahlte einen hohen Preis dafür.



Als er nämlich seine Speedo runterließ, blickte meine Tante instinktiv vom linken Urinal rüber und sah, dass das Band zum Festziehen von Murakamis Badehose an einer Stelle ein wenig gerissen war.



So kann der arme Mann unmöglich weiter seine Bahnen schwimmen, dachte sie. Schlagartig ließ sie den Putzlappen fallen und zog Murakami die Badehose an seinen Beinen herunter.
„Heben sie ihren linken Fuß.“
„Heeeben sieee ihreeeen liiiinken Fuß.“
„Und jetzt den rechten.“
„Und jetzt den reeeechteeeen.“



Murakami spürte in dem Augenblick eine solche Erleichterung, dass er alles mit sich geschehen ließ. Zudem war ihm gewahr, dass auch wenn er sich gewehrt hätte, es trotzdem genauso geschehen wäre.



„Mit der Hose können sie nicht mehr schwimmen. Das Band wird reißen und sie werden sie im Wasser verlieren. Bleiben sie hier stehen. Ich fahre schnell nach Hause und nähe ihnen ein neues Band rein.“



Murakami nickte. Auch wenn er nichts verstand, verstand er dennoch alles. Die Tür öffnete sich zu einer neuen Welt der Erkenntnis. Das war das Geheimnis, dass er seit zehn Jahren an diesem unscheinbaren Ort zu entschlüsseln suchte. Manchmal wirkt es befreiend, seine Gewohnheiten zu verlassen und Neues zu probieren. Auch wenn man am Ende nackt dasteht, dachte er, während er in das sauberste Urinal reinpinkelte, in das er je reinpinkeln durfte. Es blitzt und blankt wie ein stürmisches Gewitter an einem verregneten Sommertag. „Wenn man nur lang genug in den Regen sieht, ohne einen Gedanken im Kopf, spürt man, wie der Körper sich löst, wie er die Realität abschüttelt.“* Und genau das mache ich jetzt auch.



Zitat aus Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte.



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