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Die Abende der anderen

Foto: Gisa / photocase.de

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Der Feierabend scheint im ersten Moment so überhaupt gar keine besondere Magie zu bergen, im Gegenteil. Wen interessiert der schon, irgendwas werden die Leute da schon machen. Kochen halt, essen halt, bisschen aufräumen halt oder vielleicht noch schnell die Wäsche in die Maschine stecken, Facebook checken und an irgendeinem Link hängen bleiben. Fernsehen, mit Snacks und Cola. In die Abend-Yoga-Klasse gehen. Den kleinen Bruder mit Liebeskummer am Telefon trösten. Und dann ist ja auch schon wieder Schlafen angesagt, und morgen wieder arbeiten. Allein der Begriff ist, überstrapaziert von Regionalradio und Durchschnittsbürgerhumor, längst zur Chips-Cola-Couch-Alltagsfloskel erstarrt: Feierabend? Bratmaxe, Köpi, Tagesschau!

In Wahrheit umrankt den Feierabend aber etwas sehr Geheimnisvolles. Er ist ein Sehnsuchtsort, oder eher: eine Sehnsuchtszeit. Endlich zuhause, endlich die Arbeit und die Pflicht ablegen wie die getragenen Klamotten des Tages. Und erst morgen wieder anziehen. Im Feierabend findet jeder seine Daseinsberechtigung ohne Leistungsdruck und damit auch etwas von seinem eigentlichen Leben, seinem eigentlichen Ich, das am Tag wieder zu kurz kam, morgen Früh auch wieder keinen Platz hat und heute Nacht erst recht nicht, weil da muss ja geschlafen werden. Was wird mit dieser Lebenszeit gemacht?

Man denkt ja immer, man wisse soviel über die anderen. Vor allem seit es das Internet gibt, in dem immer alle davon erzählen, was sie machen und wer sie angeblich sind. Man hat N.’s Fotos gerade noch auf Instagram gesehen und X. heute im Büro, weiß wo F. im Urlaub war, weiß, wann man M. zum nächsten Bier trifft und warum er donnerstags nie kann. Aber was sie nachher alle machen, wenn sie zuhause sind, und vermeintlich nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass der Tag geht und ein neuer anbricht, das weiß man nicht. Essen sie eine ganze Packung Windbeutel und ist ihnen danach schlecht? Holen sie Bastelsachen raus? Schreiben sie der Oma einen Brief oder backen sie Marillenknödel oder stellen sie ihr Zimmer um? Verkleiden sie sich? Machen sie sich eine Babyflasche?

Vielleicht sollte man ja öfter mal danach fragen. Anstatt des verwässerten „Wie geht’s“ einfach: „Was hast du eigentlich gestern Abend zuhause gemacht?“. Auch ruhig mal so die eigenen Eltern, oder Großeltern. Was machen die eigentlich abends? Was denken sie sich? Wie sind die so in sich, mit sich selbst, wenn sie allein sind? Denn man ist ja nie so sehr man selbst wie in dieser leistungsbefreiten Feierabendzeit.

Aber: Sie werden es einem wahrscheinlich nicht sagen können, nicht so, wie es wirklich war. Und genau das ist es, was den Abend der anderen so geheimnisvoll und so intim und so rätselhaft macht: Man wird ihn nie erleben. Erlebte man ihn, wäre er ja nicht mehr das, was er ist, nämlich das Alleinsein des anderen. Und so kann man immer nur seinen eigenen erleben. Der Gedanke an fremde Feierabende ist jedes Mal eine Erinnerung an das ewige Gefangensein im eigenen Ich und eigenen Leben. Und eigentlich ist es deshalb auch völlig egal, was die Leute an ihren Abenden machen oder wie banal oder absurd diese Tätigkeiten sind. Einzig der Gedanke, dass sie etwas sehr Privates, sehr Unbeobachtetes tun, ist auf eine bestimmte Art aufregend.

Er ist, wie von oben auf eine Stadt zu schauen: Bei allen passiert irgendetwas. Gleichzeitig. Sie sind alle kleine Ichs, denen die Zeit davonrennt, kleine Sandkörner, die durchs Leben rieseln, die sich die Pyjamahose anziehen, die Schokoladentüte aufreißen, die Nägel lackieren, die im Flur sitzenbleiben, weil sie auf ihrem Smartphone ein Video zuende schauen, ein Schuh schon ausgezogen, ein Schuh noch halb angezogen. Sie sind wie man selbst. Aber man wird nie mit ihnen tauschen können.

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