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Jazz Jennings taucht als Meerjungfrau durch den Pool, ein bisschen reflektiert die Schwanzflosse im Licht. Wäre sie wirklich eine Meerjungfrau, wäre vieles leichter. Sie müsste sich viele Fragen nicht stellen, denn Meerjungfrauen haben dort, wo Jazz einen Penis hat: nichts. Bei der 14-Jährigen ist das anders, und deshalb muss sie sich Gedanken machen: über die Operation oder die Hormontherapie, die sie nun beginnen muss, wenn sie ihre Pubertät aufhalten will, damit sie nicht noch mehr zum Mann wird. Sie ist zwar als Junge geboren, hat sich aber als Mädchen gefühlt, seit sie sich erinnern kann.

Als sie das Meerjungfrauenvideo vor einem Jahr auf Youtube hochlädt, ist Jazz in den USA bereits bekannt – für ihre Videos und Interviews, in denen über ihren Alltag als Transgender-Mädchen erzählt: von Geburtstagspartys und ihrem Glitzer-Badeanzug, von Zweifeln und Hänseleien. Jetzt wurde Jazz das Gesicht der internationalen Kampagne von „Clean&Clear“. Der Claim: #SeeTheRealMe. Als erstes Transgender-Mädchen der Welt steht sie für einen amerikanischen Großkonzern, den Hauptkonkurrenten von Clerasil.

Moment mal: Seit wann geht es in Anti-Pickel-Werbung um so heikle Angelegenheiten? Waren da nicht eben noch bartlose Jungs, die sich aufgeregt fürs erste Date fertig machen und rufen: „Oh Nein! Ein Pickel! Ausgerechnet jetzt!“?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jazz Jennings ist das erste Transgender-Mädchen, das Werbung für einen großen US-Konzern macht.

Das Thema scheint gerade ohnehin sehr präsent zu sein. Aydian Dowling steht kurz davor, als erster Transgender-Mann auf das Cover der Männerzeitschrift Men’s Health gewählt zu werden. Das Londoner Kaufhaus Selfridges eröffnete Anfang des Jahres den gender-neutralen Concept Store „Agender“ und wirbt mit dem Transgender-Model Hari Nef. Ebenso das Luxuskaufhaus Barneys, das vergangenes Jahr 17 Transgender-Models für seine Frühjahrskampagne posieren ließ. Vogue.com fragte in einem Artikel gerade, ob sich Transgender mittlerweile fest in der Modebranche etabliert hätte.

Eine ganze Branche, die Geschlechterrollen mehr und mehr infrage stellt, ein Konzern, der Millionen von Teenagern mit einem Transgender-Werbegesicht für sich gewinnen will, eine Männerzeitschrift, die vielleicht bald eine ehemalige Frau auf dem Cover zeigt – es scheint, als hätte sich da was getan in letzter Zeit. Paula-Irene Villa ist Professorin für Genderstudies an der LMU München. Sie bestätigt den Trend: „Das Spiel mit Tabubrüchen, mit Uneindeutigkeit ist in der Werbung nicht neu. Die explizite Thematisierung von Transgender dagegen schon.“ Und das scheint eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz zu spiegeln: „Geschlecht ist ein flüssiges Konstrukt, das in Zukunft womöglich immer irrelevanter werden wird.“ Warum aber glauben die Werbeleute, gerade jetzt damit junge Menschen erreichen zu können?

Wenn eine Marke sich als fortschrittlich darstellen möchte, hilft es, traditionelle Rollenbilder anzufechten.

 
Marketing und Werbung haben schon oft versucht, aktuelle gesellschaftliche Diskurse für sich zu nutzen. „Werbung greift schon immer auf zwei bewährte Stilmittel zurück, um Glaubwürdigkeit und Aufmerksamkeit zu erzeugen: auf Authentizität und Provokation“, erklärt Ralph Poser von der Hamburger Werbeagentur Kolle Rebbe. „So erzeugen Marken Nähe und Relevanz. Besonders für junge Menschen sind Fragen nach Individualität und Abgrenzung sehr wichtig.“ Wenn eine Marke sich als jung und fortschrittlich darstellen möchte, hilft es also, bei einem gesellschaftlich diskutierten Thema traditionelle Rollenbilder anzufechten.

>>>>>>>>Jazz Jennings oder Hari Nef: eine Art werbetechnischer Home-Run.

Benetton zelebrierte unter dem Slogan „United Colors“ schon in den Neunzigern die Vielfältigkeit der Gesellschaft. Auf den Plakaten posierten Models verschiedenster sexueller Orientierung und Hautfarbe nebeneinander, ein sterbender AIDS-Kranker sollte für die Krankheit sensibilisieren. Auch Gender-Stereotypen stehen bereits länger im Fokus von Werbeagenturen. Dove fotografierte 2004 „echte Frauen“ in Unterwäsche, um daran zu erinnern, wie falsch weibliche Schönheitsideale in Zeiten von Photoshop sind – und verkaufte damit Pflegeprodukte für straffe Haut. Gerade ließ das Unternehmen für die Hashtag-Kampagne #ChooseBeautiful weltweit zwei Schilder über Eingangstüren anbringen. Über einer stand das Wort „Schön“, über der anderen „Durchschnitt“.  Ankommende Frauen mussten sich entscheiden, durch welche Tür sie gehen und wählten reihenweise die Durchschnitts-Tür. Die Werbung floppte, denn das Ergebnis war ebenso erwartbar, wie die Gedanken, die sich Frauen danach vor laufender Kamera machten. „Einseifen“ würde der Konzern seine Kundinnen damit, schrieb die Zeit.

Das ewige Herumreiten auf dem weiblichen Defizit funktioniert offenbar nicht mehr. 2004 konnte Dove damit noch provozieren, heute nicht mehr. Deswegen sind Marken auf der Suche nach neuen Themen, die eine ähnliche Botschaft vermitteln.

Jazz Jennings oder Hari Nef sind momentan also eine Art werbetechnischer Home-Run. 


Gender-Nonkonformität ist so ein Thema. In den vergangenen Jahren ist es verstärkt in den Fokus gerückt. Auf Facebook lassen sich 58 Optionen unter „Geschlecht“ auswählen – auch Transgender ist eine davon. Jazz Jennings wurde vom Magazin TIME 2014 zu einer der einflussreichsten Jugendlichen der Welt gewählt. Gleichzeitig ist Transgender aber noch immer Tabuthema genug, um garantiert für Aufmerksamkeit zu sorgen, wenn man es es offensiv in einer Kampagne verwendet. „Zynisch gesagt, war einfach keiner mehr übrig, mit dem der Diskurs noch spannend gewesen wäre“, erklärt Werbefachmann Poser. „So gesehen sind Transgender-Models lediglich eine weitere Variante einer sehr zeitgemäßen Marketing-Inszenierung.“ Hautkranke, Dicke, Homosexuelle oder Transgender-Models – „alle haben für eine gewisse Zeit das gängige Bild von Schönheit und von Normalität ins Wanken gebracht und zu neuer Normalität erweitert“.

Jazz Jennings oder Hari Nef sind momentan also eine Art werbetechnischer Home-Run. Sie sind nicht nur Vorbilder für die Community, die sich für die Rechte von Homo- und Bisexuellen und Transgender einsetzt, sie verkörpern auch das weltoffene Image der Unternehmen, für die sie werben. Die können damit das alte „Sei wie du bist“-Gefühl, das schon Dove vor einem Jahrzehnt benutzte, erneut verbreiten.

Und wenn auch das irgendwann langweilig und durchschaubar geworden ist, geht es weiter zur nächsten Minderheit. 


Text: sina-pousset - Katharina Bitzl

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