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Der Jugendversteher

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Am Ende des Vortrags hebt ein Mann mit grauem Vollbart die Hand und steht von seinem Platz im Publikum auf. Er holt Luft, dann schmettert er in den Saal: "Mir ist so richtig wohl. Haben Sie vielen Dank. Endlich verstehe ich meine Kinder!" Und Klaus Hurrelmann steht stumm am Rednerpult und nickt. Er kennt diese Momente. Wenn seine Worte in den Köpfen der älteren Deutschen irgendwas umrücken. Für diese Momente macht er das ganze ja.  

Ein Dienstagabend im Mai, ein Kongresszentrum in der Kölner Innenstadt. Eine Viertelstunde vor demselben Auftritt: Klaus Hurrelmann sitzt in seiner Talkshow-Haltung in einem kleinen Raum neben der Bühne. Beine überschlagen, Mittel- und Zeigefinger an der rechten Schläfe. Er hört gerade einer Frau zu. Sie ist Anfang 60 und Vorstand eines börsennotierten Unternehmens. Sie wird gleich die Eröffnungsrede halten, vorher plaudert sie noch ein wenig mit dem Gast aus Berlin.  

Widersprüchlich seien sie, die jungen Leute, sagt die Frau und wiegt nachdenklich den Kopf. "Die wollen ja heute gar nicht mehr unbedingt in Führungspositionen. Freizeit ist denen plötzlich so irre wichtig!" 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der Wissenschaftler und sein Forschungsobjekt: Klaus Hurrelmann bringt zu manchen Vorträgen einen 25-jährigen Unternehmensberater mit. Als Teil seiner Beweisführung.

Hurrelmann nickt. Er hört die Geschichten ja jeden Tag: Von 25-Jährigen, die im Bewerbungsgespräch für eine Trainee-Stelle nach fünf Minuten fragen, um wie viel Uhr sie denn eigentlich so Feierabend hätten? Von Azubis, die sich schon in der zweiten Woche beschweren, dass sie den Sinn ihrer Aufgabe nicht verstehen, oder die jeden Freitag vor dem Büro ihres Chefs stehen, um nach Feedback für die vergangene Woche zu fragen.  

Klaus Hurrelmann, dichte graue Haare, federnder Gang, ist einer von Deutschlands bekanntesten Soziologen. Ein Fachmann für Bildungsthemen, Pädagogikstudenten müssen seine Modelle für Prüfungen pauken. Berühmt ist Hurrelmann aber als Jugendforscher. 

Er gibt die Shell-Jugendstudie mit heraus, die im Auftrag des Mineralölkonzerns seit 1953 alle paar Jahre die deutsche Jugend durchleuchtet. Außerdem eine Finanzstudie über die Alterssicherung junger Leute und eine Ausbildungsstudie im Auftrag von McDonald’s. Er ist einer von acht Wissenschaftlern im Expertenbeirat Demografie, der sich dreimal im Jahr mit Innenminister Thomas de Maizière trifft, um ihn bei der Lösung eines der größten Probleme der Republik zu beraten – der Überalterung der Gesellschaft. Und wenn es mal wieder eine umstrittene Gesetzesänderung gibt, die irgendwas mit Jugendlichen zu tun hat, ist es meist Hurrelmann, der in den "Tagesthemen" oder bei Günther Jauch seine Meinung zur Gesamtschule oder zum Warnschussarrest abgibt. Mit 71 Jahren ist er der Jugenderklärer der Nation.  

"Woher kommt dieser Wunsch nach Feedback im Job?" – "Von den Computerspielen!"


Auf der Bühne in Köln ist er beim Problem mit den Azubis angekommen, die jede Woche Feedback wollen. "Ganz typisch für diese Generation!", sagt Hurrelmann in seiner schnarrenden Stimme. "Ich will Rückmeldung für das, was ich tue!" Wenn er erklärt, wie die jungen Leute denken, redet er immer in der ersten Person. "Ich" ist dann nicht mehr Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, 71, dunkelblauer Anzug und schwarze Geox-Schuhe. "Ich" ist dann ein Durchschnittsdeutscher zwischen 15 und 30. Sein Forschungsobjekt.   "Ich will direkt wissen, wie gut ich war. Was ich besser machen kann!" Er macht eine kurze Pause, er weiß, dass jetzt eine Pointe kommt, die immer zündet. "Die Wissenschaft vermutet übrigens, dass das Feedback wegen Computerspielen so gefragt ist: Ich bin es ja gewohnt, nach jedem Level eine Rückmeldung zu bekommen." 300 Leute im Saal lachen. 

Die Leute im Saal sind heute vor allem Berufsschullehrer und Ausbilder aus der Metallindustrie, dazu ein paar Schulklassen, die Hurrelmann später um ein Gruppenfoto bitten werden. Der Name des Vortrags: "Wie tickt die junge Generation?" Er dauert eine knappe Stunde. Hurrelmann hält ihn zurzeit leicht abgewandelt ungefähr dreimal die Woche. Bei Versicherungsunternehmen in Hamburg, vor Personalern in Berlin oder Pädagogen in Tübingen.  

Was die Menschen im Publikum verbindet: Sie haben beruflich mit den 15- bis 30-Jährigen zu tun, die Hurrelmann unter dem Begriff "Generation Y" erforscht. "In den Unternehmen merken sie zur Zeit: So, wie sie immer gearbeitet haben, werden sie nicht fertig mit den jungen Leuten", sagt Hurrelmann ein paar Tage vorher in seinem Büro in Berlin. "Die, die jetzt in den Beruf einsteigen, sind irgendwie anders. Also fragen sie mich: Können Sie uns das mal erklären?" Er kichert glucksend. "Ich bin selbst überrascht, wie stark die Nachfrage ist." 

>>> Was Pädagogen und die Neon Hurrelmann vorwerfen – und warum ein Gefängnisaufenthalt den Jugendforscher bis heute prägt. >>> 


Wenn man Klaus Hurrelmann begleitet, trägt man besser gute Schuhe und leichtes Gepäck – er sprintet los, sobald eine Fußgängerampel in fünf Metern Entfernung auf Rot zu springen droht. Wenn er abends in Köln ist und am nächsten Mittag in Frankfurt einen Vortrag hält, fliegt er trotzdem für die Nacht zurück nach Berlin, nie mit mehr Gepäck als einem zusammengerollten Spiegel. 

"Jugendliche", schnarrt Hurrelmann in Köln ins Mikrofon, "sind wie eine Weinrebe. Wie sie sich entwickeln, hängt von äußeren Bedingungen ab. Vom Boden, vom Wetter, von der Pflege." 

Es ist einer der Punkte, die Hurrelmann immer wieder Kritik einbringen, von Pädagogen und anderen Wissenschaftlern, aber auch von jungen Leuten: Die scharfe Trennung zwischen den Generationen. Alle 15 Jahre löst nach seinem Modell eine Generation die vorhergehende ab. "Es klingt willkürlich, hat sich aber über die Jahrzehnte so bestätigt", sagt er. Die äußeren Bedingungen in der Welt ändern sich alle 15 Jahre so stark, dass man es den Menschen anmerkt, die darin aufgewachsen sind. Für Hurrelmann hat deshalb jede Generation bestimmte Stärken, Schwächen, Ängste und Komplexe. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Hurrelmann ist 68er – trotzdem versteht er die "Ego-Taktiker". 

Da ist die Generation der Kriegskinder, geboren 1925 bis 1940: "Tief skeptisch, verunsichert, der Krieg, die Not." Da sind die 68er, seine Generation, geboren 1940 bis 1955: "Angriffslustig, rebellisch, mit Hang zum Pathos." Dann die Babyboomer, Jahrgang 1955 bis 1970: "Zum ersten Mal materiell gesichert, deshalb interessiert an anderen Dingen, zum Beispiel Umweltschutz. Eine sehr fleißige Generation!" Die Generation X, 1970 bis 1985: "Deutlich kleiner, verwöhnt, gelangweilt, orientierungslos."  

Die Generation Y, geboren zwischen 1985 und 2000, hat er vor einigen Jahren mal "Ego-Taktiker" genannt. Im Herbst hat er ein Buch über sie geschrieben, das prophezeit: "Wenn die Ypsiloner einmal in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, wird unsere Welt eine andere sein." Die FAZ motzte daraufhin, Hurrelmann versuche "mit primitivsten Mitteln, das Rätsel des Jungseins zu bewirtschaften". Pädagogen werfen ihm eher seinen moralischen Ton vor. Er setze "Jugend" mit "Anpassung" gleich, was arg konservativ sei und überhaupt – richteten sich heute nicht die Erwachsenen viel mehr nach den Jungen? Die Neon fand kürzlich Hurrelmanns Etikett der "Leistungsstreber" eine Frechheit – nur weil die Generation Y "unverschämterweise Lebenspläne entwickelt, statt entspannt in die nächste Krise zu segeln." 

Hurrelmann sagt: "Natürlich ist jeder Mensch anders. Aber –", er holt Luft, "die äußeren Bedingungen prägen alle Mitglieder einer Gesellschaft gleich. Und junge, unfertige Leute saugen das mit hypersensiblen Sinnen auf. Deshalb sieht man an ihnen alle Entwicklungen einer Gesellschaft zuerst."  

Als er selbst von der Schule flog, kämpften zwei Lehrer für ihn. Seither will er etwas zurückgeben.


Die Generation Y sei vor allem durch vier Faktoren geprägt. Erstens: Die digitalen Medien. "Internet und Smartphones haben diese Jugendlichen technisch sehr kompetent gemacht – sie haben aber auch die Weltsicht komplett verändert. Sie bewegen sich so souverän wie nie durch die Welt, sie kennen ja alles schon aus dem Internet." Zweitens: Der 11. September 2001. "Eine neue Qualität von politischem Terror. Globale Verunsicherung, gefolgt von Kriegen." Drittens: Umweltkatastrophen. "Überschwemmungen, Tsunamis, Fukushima. Die Welt ist für diese Generation nicht mehr per se ein wohnlicher Ort." Viertens: Die Wirtschaftskrise. "Diese Generation ist aufgewachsen mit dem ständigen Mantra: Es gibt nicht genug Arbeit für euch alle. Ihr seid zu viele – obwohl ihr so wenige seid."  

Auch das ist ein Grund, weshalb Hurrelmanns Vorträge zur Zeit so gefragt sind: Nie war eine Generation kleiner als die der Ypsiloner, dem Land gehen die jungen Leute aus. 1965 wurden noch 1,3 Millionen Kinder geboren. 1995 waren es noch gut halb so viele. Die Bevölkerung schrumpft, die Jungen werden nun doch gebraucht. Aber sie haben plötzlich andere Ansprüche. 

Am Tag nach dem Auftritt in Köln läuft Hurrelmann durchs Frankfurter Bankenviertel. Ein stürmischer Frühlingstag, Hurrelmann soll ausgewählte Mitarbeiter einer großen Bank schulen. Vor dem Hochhaus wartet schon eine Dame im Kostüm auf Hurrelmann. Er schüttelt ihre Hand, sieht neben dem Hochhaus eine umzäunte Baugrube und fragt: "Vergrößern Sie sich?" – "Wir bauen einen Betriebskindergarten." Hurrelmann schnalzt mit der Zunge, klappt den Daumen aus und ruft: "Sehr gut!" Er schaltet den Soziologenblick nie aus. 

"Bausparverträge! Heiraten!" Der 68er Hurrelmann müsste eigentlich den Kopf schütteln. Aber es ergibt ja Sinn! 


Warum macht Klaus Hurrelmann das alles? Er ist seit sechs Jahren von der Uni Bielefeld emeritiert, er ist jetzt Professor an der privaten Hertie School in Berlin, er könnte es sich gemütlich machen, hin und wieder ein Buch schreiben, sich um Kinder und Enkel kümmern. Warum fliegt er stattdessen durch Deutschland, als Vortragsreisender, und wirbt um Verständnis für Leute, die 50 Jahre jünger sind als er?  

Hurrelmann sagt: "Ich finde junge Leute spannende Persönlichkeiten. Die sind wichtig für alles, was passiert! Ich will sagen: Schaut mal hin, nehmt die ernst. Ich bin für eine faire, sachliche Sicht."  

Es liegt wohl auch daran, dass es in seinem Leben ein paar Mal jemanden gab, der genau hinschaute. Hurrelmann stammt aus einem Städtchen in der Nähe von Bremen, einfachste Verhältnisse. Ein Grundschullehrer kämpfte dafür, dass Hurrelmann aufs Gymnasium gehen durfte, als erster in seiner Familie. Der Vater, ein Seemann, verspottete ihn als Schwächling. Um sich "irgendwas zu beweisen", beging Hurrelmann mit Schulkameraden Ladendiebstähle – und verbrachte vier Wochenenden im Jugendarrest. Er flog deshalb von der Schule. Und wurde nur dank eines verständnisvollen Direktors an einer anderen Schule wieder aufgenommen. "Das hat mich schwer beeindruckt", sagt Hurrelmann. "Die Schärfe der Reaktion. Aber auch die Menschlichkeit danach." Später widmete er sein erstes Forschungsprojekt als Soziologe der Jugendkriminalität.  

Im 5. Stock des Hochhauses sitzen neun Banker in einem Konferenzraum. Krawatten, säuberlich gestutzte Bärte, auf den Tischen stehen Plätzchenteller und Fläschchen mit warmem Konferenz-Mineralwasser. Reihum schildern die Banker ihre Probleme mit den jungen Leuten.  

"Diesen Leuten Dienstwagen anbieten? Voll daneben!" Statussymbole sind der Generation Y völlig egal. 


"Die Bewerber heute sind so schwer zu packen! Was wollen die wirklich?" 
"Ich finde, die werden immer weniger kritikfähig." 
"Für die ist es völlig normal, sich heimlich woanders zu bewerben – einfach, um mal den eigenen Marktwert zu testen!" 

Die Finanzbranche hat ein ähnliches Problem wie die Metallindustrie, die Hurrelmann am Vortag nach Köln eingeladen hat: Ihr gehen die Lehrlinge aus. Für Hurrelmann ist das nur logisch. Es ist eine Folge der Prägung dieser Generation. Er steht vor den Bankern und spricht jetzt wieder als junger Mann zwischen 15 und 30: "Ich habe gelernt, dass nichts sicher ist. Dass ich den Wohlstand meiner Eltern wahrscheinlich selbst nicht erreichen werde. Also warte ich ab! Ich sondiere, ich lege mich nicht zu früh fest – könnte ja die falsche Festlegung sein. Vielleicht lege ich lieber nochmal ein Studium obendrauf!"

Wenn man Hurrelmann so sieht, versteht man, dass seine Thesen keine Vorwürfe sind. Das "Leistungsstreben", das Taktieren – Hurrelmann wertet das nicht. Er sieht es als Resultat einer Kindheit der Unsicherheit. Bausparverträge waren lange nicht so beliebt wie heute. Man heiratet wieder jünger. "Bausparverträge! Heiraten!", ruft Hurrelmann und lacht. Als 68er müsste er eigentlich den Kopf schütteln, als Soziologe versteht er es.

Neu ist bei dieser Generation noch etwas: Die Suche nach Sinn im Beruf. Nach Erfüllung. "Manche Unternehmen versuchen, junge Leute mit Dienstwagen zu ködern – voll daneben!" Statussymbole sind der Generation Y egal. Wie übrigens auch: Macht um der Macht Willen. "Hierarchien gegenüber sind diese Leute völlig blind", ruft Hurrelmann den Bankern zu. "Status bedeutet heute: Ich bin fit, sportlich, und zeige es meinen Freunden auf Instagram. Ich weiß, dass ich eine Work-Life-Balance brauche, sonst brenne ich aus. Der Chef mit der 90-Stunden-Woche wird bald aussterben."  

Hurrelmann hält seinen Vortrag heute nicht alleine. Neben ihm sitzt Carsten Meier, er ist Teil von Hurrelmanns Beweisführung. Meier ist 25, er trägt Anzug und Ehering. Meier hat eine Unternehmensberatung gegründet, die Firmen dabei hilft, attraktiver für junge Leute zu werden. Er erzählt den Bankern von der Idee des "Freaky Friday", einem Tag in der Woche, an dem alle Mitarbeiter nur an eigenen Ideen tüfteln. Er wirft ein Foto an die Wand – es zeigt das Büro seiner Firma mit einer Ecke voller Kissen und Matratzen. Die jungen Unternehmensberater liefern sich gerade eine Kissenschlacht. Die Banker nicken brav, ein paar machen sich Notizen.  

Am Ende applaudieren sie. Und dann sagt eine der Bankerinnen: "Vielen Dank. Ich weiß nicht, ob wir bei uns in der Filiale eine Matratzenecke durchsetzen können – aber ich glaube, ich verstehe meine Tochter jetzt besser." Und Hurrelmann nickt.

Text: jan-stremmel - Fotos: Julia-Rosa Reis

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