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"Hier sitzt mein Koffer"

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Ansage, die

Kommunikationsform des Fahrers mit seinen Gästen, die stimmlich von Samt bis Serienmörder variiert. Seine gehauchten oder abgehackten Sätze sind es, die fortan durch den Tag/die Nacht führen. Sie geben dem Fahrer die Möglichkeit, nicht nur als gesichtsloses paar Hände mit Gasfuß aufzutreten, sondern den Raum mit Persönlichkeit zu füllen. Inhaltlich irgendwo zwischen Therapiesitzung („Hallo. Mein Name ist Peter Uhland, ich bin dreifacher Familienvater.“) und kalaueriger Stadtführung zu verorten („Rechts sehen Sie Europas größtes Einkaufszentrum. Bitte drücken sie jetzt auf Nothalt.“).
 

Busunternehmen, das

Der Bus wird zumindest für ein paar Stunden zum improvisierten Zuhause. Einen Anbieter auszuwählen, ist deshalb wie einen Heimatverein festzulegen: Einmal dabei, immer dabei. Wer sich einen ersten Überblick verschaffen will, findet ihn zum Beispiel unter www.fernbusse.de.
 

Cineast, der

Reisender, der im Bus stets mit Laptop oder Tablet auftritt. Anstatt vor sich hinzuvegetieren, zieht der Cineast es vor, seine ohnehin verlorene Lebenszeit mit Kulturprogramm zu füllen. Er lädt deshalb, in Erwartung des miesen → Internets, exakt so viele Serienfolgen vor, wie er während der Reise anschauen kann. Gibt es dazu noch Snacks, fühlt er sich fast wie im Kino. Seine natürlichen Feinde: → Steckdosenlücke → verdeckter Ermittler. Und ein abstürzender Browser.
 

Dunkelheit, die

Wichtigste Voraussetzung, um im schaukelnden Bus ein heimeliges Mutterschoßgefühl zu empfinden. Ermöglicht ungestörtes Sich-Gehenlassen (Chipstüte auf, Schuhe aus). Hochphase des → Cineasten, meist einhergehend mit ersten Problemen im Bereich → Quadratzentimeter. Der Moment, in dem das Licht wieder angeht, ist ähnlich ungemütlich wie im Club.
 

Echt keine Ahnung, wo ich hier bin

Vom Reisenden während der Fahrt oft gedachter Satz. Kann zum Zeitvertreib durch Whatsapp-Nachrichten mit angehängtem Ödnis-Foto an die Außenwelt kommuniziert werden, um von Freunden Mitleidsbekundungen zu erhalten.
 

Fernbeziehung, die

Moderne Beziehungsform, der gefühlt zwei Drittel der Passagiere eines Fernbusses angehören. An Haltestellen deshalb vor der Abfahrt ständig zu beobachten: Knutsch- oder Heulwolken in Paarformation. Für Unbeteiligte erschwert das zwar Ein- und Ausstieg (→ Gepäcktetris), für die Fernbeziehung aber ist der Fernbus das rettende Stück Treibholz, das preisgünstig von Wochenende zu Wochenende trägt.
 

Gepäcktetris, das

Versuch, möglichst viel Gepäck passgenau zu verstauen. Funktioniert ähnlich wie das Spiel mit den Klötzchen, ist nur weniger unterhaltsam. Sicherheitsbedürftige spielen ausschließlich mit ihrem eigenen Gepäck um ihren Sitz herum („Hier sitzt mein Koffer.“). Entspanntere überlassen hingegen den Kampf dem Busfahrer an der Großladefläche, wo der Koffer aber auch zerdrückt werden kann (→ ’Tschuldigung). Generell gilt: ein Gepäckstück plus Handgepäck. Sperrgepäck wie Fahrräder transportieren einige Unternehmen gegen einen Aufpreis von etwa zehn Euro.
 

Hintensitzer, die

Profis lässiger Fahrkultur, die schon in der Grundschule wussten, wie man richtig Bus fährt: versteckt vor der Autorität in den hinteren Reihen. Hier riecht es nach Anarchie, Drogen und vielleicht ein wenig nach ewiger Jugend. Während der nervöse Vornesitzer die Verkehrslage kommentiert und sich der Mittelsitzer fragt, wie er diesem penetranten WC-Geruch entfliehen kann, summt der Hintensitzer stattdessen G. Love: „All the cool kids on the back of the bus/High like Mt. Everest looking for some leverage/Floating like some vapors coolin like a beverage.“

>>> Der sinuskurvenartige "Ja nichts vergessen!"-Moment


Internet, das

Hauptablenkungsmethode zur Füllung der Reisezeit. Dabei ist das Wlan meist so zuverlässig wie das Auftauchen eines Nordlichts am Fjord. Alternativ bieten Busunternehmen neben spannenden Reisebroschüren in der Vordersitztasche („Entdecken Sie Krefeld“) eine Mediathek mit Filmen an. Achtung: Fehlendes Entertainment führt zu Ersatzhandlungen (→ Zuckerschock) und gehäuftem Auftreten des → verdeckten Ermittlers.
 

Ja nichts vergessen!

Gedanke, der Sinuskurvenförmig verläuft: Kurz nach der Abfahrt wird hysterisch in der Tasche gekramt („Scheiße, wo ist mein Perso/Ladekabel/Handy?!“) um dann zu entspannen. Kurz vor Ankunft geht die Kurve dann wieder nach oben („Hab ich auch unterm Sitz geschaut?“).
 

Klimazonenwechsel, der

Die Temperaturen variieren im Bus je nach Fahrt- und Tageszeit zwischen arktisch, Savanne und tropisch. Erfahrene Busreisende tragen deshalb atmungsaktive Funktionskleidung (Jogginhose) oder zwiebeln sich von einem Klimaumschwung zum nächsten. Wichtige Begleiter: Socken und Schal.
 

Langsamkeit, die Entdeckung der

Mit einer Maximalgeschwindigkeit von 100km/h ist der Bus der Maulesel der Straße. Aber nach ein paar Stunden Busgebrumme ist alles plötzlich beruhigend: die Dauerschleife aus Landstraßen, Feldern, Ausfahrten, sogar die immer gleichen Nicht-Orte, an denen Menschen ein- und aussteigen. Denn obwohl etwas passiert, passiert eigentlich absolut nichts. Es bleibt nur, wie damals mit den Eltern auf dem Weg in den Urlaub: zurücklehnen und sich fahren lassen.
 

Müllproblem, das

Problematik, die sich mit der Länge der Busfahrt verschärft. Leere Wasserflaschen, Apfelschnitze und Kekspackungen stehlen wichtige → Quadratzentimeter. Ist der Mülleimer überfüllt oder außer Reichweite, sind eigene Lösungsansätze gefragt: Verdrängungstaktik (alles zurück in die Tasche), Babouchka-Methode (das Nächstkleinere in das Nächstgrößere) oder Kindergarten (alles auf den Boden).

Nadelstreifenträger, der

Immer häufiger in Fernbussen auftretender Gast, der sich vom restlichen Buspublikum durch Tragen eines Anzugs unterscheidet. Vermutlich Markforscher im Auftrag der Bahn. Versteht den Bus als fahrendes Büro: Mit Laptop auf dem Schoß und Konferenz am Ohr verbreitet er mit seinen Zwischenrufen Wallstreet-Flair („Wir müssen bei 500 K dicht machen!“). Hat von seinen Kollegen gehört, dass die Pendelei mit dem Fernbus von Frankfurt am Main nach Berlin ein hervorragendes Kosten-Nutzen-Verhältnis habe.
 

Ohrstöpsel, die

Wichtigste Reisebegleiter, die die Fahrt nicht nur durch konstante Versorgung mit Lieblingsmusik angenehmer machen, sondern auch Umgebungslärm wie Knutschgeräusche oder Telefongeschrei abblocken.
 

Pinkelfrage, die

Unausweichliches Dilemma der Busreise: Der Klogang wird mit der Reisedauer zur hygienischen und logistischen Herausforderung. Es gilt: Je früher, desto besser. Neben Zielgenauigkeit sind Beinmuskulatur und Festivalerfahrung von Vorteil.

Quadratzentimeter, der

Lebenswichtiger Stauraum zwischen Knie und Vorderlehne sowie Ellenbogen und nächster Armlehne, der entscheidend für den Fahrkomfort ist. Grundsätzlich immer zu klein. → Hintensitzer, Treppensitzer und Gangsitzer erhöhen die Quadratzentimeteranzahl durch ihre taktische Sitzplatzwahl. Bei Nachtfahrten größtes Glück: Eine Sitzreihe für sich! Besonders freuen sich darüber große Menschen, deren → U-Beine sich bereits zur Brezel formen.
 

Rastplatz, der

Beton, etwas Baum und Flutlicht: gesichtslose Haltestellen im Nichts („So sieht also Köln-Mülheim aus!“) bilden die Knotenpunkte von Busreisen. Nie wird klar, wie andere Menschen ohne Bus dort hinkommen und warum es trotzdem meistens Essen gibt. Deshalb zentraler Ort der Snackversorgung für Anspruchslose („Hinten links gibt es einen Imbiss/Mäckes/Penny“) und halbelegante Lösung der
→ Pinkelfrage.

>>> Was macht ein verdeckter Ermittler im Bus?


Steckdosenlücke, die

Busphänomen, bei dem die Stromversorgung in jeder Sitzreihe außer der eigenen zu funktionieren scheint. Die Folge ist Fassungslosigkeit beim Blick auf benachbarte Sitze, auf denen sich gut verkabelte Menschen tümmeln.
 

‘Tschuldigung

Gehört zum Grundwortschatz einer jeden Busreise. Schlichtendes Wort im Umgang mit alltäglichen Herausforderungen wie → Gepäcktetris, → Quadratzentimeter und → Müllproblem. Synonym für: Toleranzgrenze, die.
 

U-Beine, die

Beinstellung, die durch im Fußraum platziertes Gepäck auftritt. Einziger Ausweg bleibt die frontal breitbeinige Auslagerung der Füße. Praktisch, da sich das Ladekabel, Snacks oder die Jackentasche unmittelbar erreichen lassen, aber spätestens nach der zweiten Ausfahrt setzen Wadenkribbeln und Kniescheibenstarre ein.
 

Verdeckter Ermittler, der

Arme Wurst, die sämtliches Entertainment entweder vergessen oder aufgebraucht hat und nun auf der Suche nach intellektueller Stimulation jeglicher Form am Bildschirm von Mitreisenden hängenbleibt. Wird er enttarnt, tut er so, als schaue er interessiert aus dem Fenster in die Nacht hinein.
 

Wurstbrotfalle, die

Spezielle Form von Futterneid, die durch mitgebrachten Proviant anderer Passagiere ausgelöst wird. Faustregel: Einer von ihnen hat immer, immer ein Wurstbrot oder anderes Vesper dabei, dessen Duft irgendwann die eigene Nase erreicht. Führt zu Magenknurren, Frustkauf beliebiger Riegel beim Fahrer oder völliger Vernichtung der eigenen Snackvorräte (→ Zuckerschock). Wirklich Abhilfe gäbe es aber nur, dürfte man beim Nachbar einfach mal kräftig abbeißen.
 

Xerophobie, die

Angst vor Dürre und Austrocknung, die in Busreisen besonders durch die Veränderung der → Klimazone und Leerung der Wasserflasche einsetzt. Löst sich in einem zermürbenden Kreislauf mit der Pinkelfrage ab.
 

Yeah-Rufer, die

Passagiere, deren Mentalität stark mit Berufspendlern und restlichen Reisenden kollidiert. Meistens sind sie auf dem Weg zu einer Feierlocation, (Junggesellenabschied, Technoweekend oder Kurzurlaub), für die sich im Bus direkt schon mal eingegroovt wird (→ Ohrstöpsel).
 

Zuckerschock, der

Resultat allgemein erhöhter Snack-Lust auf Reisen und dem kulinarischen Angebot im Bus. Über mehrere Stunden verteilt wächst durch Mangel an Alternativen der Essensdrang, wodurch auch ein totgekühltes Mars aus der Tiefkühlbox des Fahrers oder andere traurige Rastplatzsnacks immer attraktiver werden. Führt, neben einem ungleichmäßigem Herzschlag, zur Verschärfung des → Müllproblems.

Text: sina-pousset - Illustration: Katharina Bitzl

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