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Ein Pamphlet für die Liebe

Text: ClementineSpring

Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung !
Ob das Ganze stimmt. Sprich, die Wirtschaft, unsere Ökonomie, der Kapitalismus, das Fernsehen, die Medien und der ganze Rest sich auf unser Leben auswirkt. Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass Mann oder Frau sich öfter für die professionelle Laufbahn entscheiden als für die Liebe oder die Familie. Ich habe keine Ahnung, ob wir im Durchschnitt alle ein Stück weit narzisstischer geworden sind, als wir es noch vor Jahren waren. Ich habe keine Ahnung, ob unsere Solidarität abnimmt.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich dazu überhaupt eine Meinung habe. Keine Ahnung – tut mir leid. Ich weiß nicht, ob sich unser System auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Ich kann nur, d.h. lediglich Dinge wiedergeben, die ich selber gelesen habe.
Ich kann schildern, was ich beobachte und was ich selbst empfinde, ob das die Wahrheit ist, keine Ahnung. Wahrheit so scheint es mir, ist immer an die Realität des Betrachters gebunden – Wahrheit kann ziemlich relativ sein. Oft besteht eine allgemeine Wahrheit ja auch nur aus Übereinstimmungen vieler Meinungen, und wenn dann erstmal im kakofonischen Einklang beschlossen wurde, das weiß weiß ist – dann ist es auch erstmal so und derjenige, der was anderes behauptet lügt oder ist verrückt.
Ich kann also nur erzählen, was ich empfinde und erlebe. Mir kommt es so vor, als würde die Welt rasen. Ich bin nur ein einzelner Partikel, der herum irrt. Bis dahin ist das auch gar nicht mal so schlimm. Schlimm ist nur der Druck, den ich jeden Tag empfinde, genauso ein rasender Partikel zu werden wie all die anderen. Es gibt keinen Menschen, der mir sagt, dass ich schneller werden muss. Wirklich keinen. Weder meine Eltern. Noch meine Freunde. Noch irgendein Arbeitgeber.  Aber trotzdem habe ich jeden Tag das miese Gefühl, dass ich mehr leisten muss. Mehr ! Ich weiß nicht, wieso, für wen und erst Recht nicht aus welchem Grund. Trotzdem macht mir dieses Gefühl Angst. Diese Angst wirkt sich auf alles Mögliche aus. Sie ist wie ein Fundament auf dem sich nach und nach  mein ganzes Tun und Handeln aufbaut. Ich habe Angst, nicht gut genug zu sein – aber für wen? Ich habe Angst, nicht schnell genug zu sein – aber mit welcher Intention? Ich habe Angst, nicht die richtigen Entscheidungen zu treffen – aber wer zum Teufel bestimmt was richtig oder falsch ist? Ich habe Angst davor einfach zu sein – und wer hindert mich daran? Ich habe Angst, etwas zu verpassen – aber was verpasse ich, wenn doch sowieso immer alles gleich ist? Ich habe Angst den Anschluss zu verlieren und dann irgendwo vergessen, unbemerkt und übersehen zu werden – aber warum? Sind es Andy Warhol's 15 Minuten, die auf mir lasten? Bin ich so narzisstisch? Never. Ich glaube es gibt noch eine unendliche Anzahl von Dingen, die mir und meiner Generation Angst machen. Das Aberwitzige daran ist, niemand wirklich niemand macht uns bewusst damit Angst. Trotzdem ist sie da. Ganz tief sitzend und alles bestimmend. Die Angst.
Sie treibt uns an. Macht, dass wir funktionieren. Ob im System oder im Anti-System, was auch wieder ein System ist.
Wir sind flexibel. Wir können verdammt viel. Wir sind gebildet und haben jede menge Möglichkeiten. Und trotzdem ist da diese Angst, der Druck, irgendetwas Besonderes geleistet zu haben. Was – keine Ahnung. Für wen – keine Ahnung.



Ich bin mir relativ sicher, dass das nicht nur meine Angst ist. Mit welcher Gewissheit ich das sagen kann? Mit einer Großen.
Ich bin in eine Welt hinein geboren worden, in der ich kein physisches Leid ertragen musste. Es gab keine Kriege, keine Hungersnot, und auch sonst nichts, was meiner Gesundheit geschadet hätte. Ich bin relativ wohl behütet aufgewachsen. Mit Sicherheit gibt es Menschen in Deutschland, denen es um einiges besser oder schlechter ging. Trotzdem kann ich als reflektierter Mensch sagen, dass mich einige Dinge schon früh veranlasst haben, über die Fragen des Lebens nachzudenken. 



Wenn ich meine Mitmenschen beobachte, wie an den Tagen, an denen ich in der Fußgängerzone sitze, dann stellen sich mir so viele Fragen. Warum tun wir das? Warum laufen wir da herum und kaufen uns sinnlosen Kram, der uns vielleicht für ein paar Stunden befriedigt, aber dann nicht mehr? Wieso machen wir nicht irgendwas Sinnvolleres mit unserem Leben? Ich weiß natürlich nicht und kann es auch gar nicht wissen, was den oder die Einzelne in Wirklichkeit antreibt dort etwas zu kaufen. Ich will nicht verurteilen oder mir meine Anti-Schablone auflegen. Das ist nicht mein Ziel.
Aber was genau ist sinnvoll? Und was nicht?Wer bestimmt das? Wahrscheinlich das gleiche unsichtbare Kollektiv aus dem Nichts, was mir diese Angst macht.



Ich sehe gerne Kindern beim Spielen zu. Das Ganze wirkt immer so unbedarft und frei. Sie sind einfach und geben sich dem hin. Sie betrachten die Welt aus vielen Perspektiven, weil sie sie ständig wechseln. Sie legen sich auf den Boden, betrachten den Himmel, klettern auf Dinge hinauf und schauen herunter. Ich glaube das physische Perspektive wechseln, wirkt sich auch auf das Psychische aus. Als erwachsener Mensch tut man das hingegen sehr selten.
Wir werden träge zum Denken, wenn wir erstmal einfunktionalisiert sind und das geht so verdammt schnell. Dann lassen wir uns von unseren Standard-Denkschablonen leiten und das war's dann. Wieso? Vielleicht weil's einfach ist und weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass es funktioniert. Biologisch gesehen kostet es ja auch mehr Energie immer wieder neu zu denken. Problematisch wird es nur dann, wenn das Denken in unseren Schablonen die Wahrnehmung der Realität verzerrt und wenn dies dann zur Wirklichkeit wird.
Vielleicht ist es aber noch ein Faktor, der uns an unseren Schablonen festhalten lässt. Nämlich was uns außerdem von Kindern unterscheidet, wir haben mehr Angst. Kinder sind so neugierig, entdecken die Welt und wollen so viel wissen. Bei vielen Erwachsenen stellt sich das irgendwann ein. Obwohl wir eigentlich dazu in der Lage sind bis ins hohe Alter dazu zu lernen. Stellt sich die Frage, warum wir ab einem gewissen Zeitpunkt im Stand-by-Modus weiter vegetieren?
Und ab welchem Alter geht dieses unbedarfte und freie verloren? Ich weiß nicht mehr genau, wann es bei mir der Fall war. Vielleicht mit neun oder zehn. Bei anderen vielleicht früher oder später. Ist auch egal. Irgendwann tritt dieser Zeitpunkt ein an dem Mister Ernst-des-Lebens an die Tür klopft und dir sagt: »Der Spaß ist vorbei! Schluss mit lustig! Da draußen wartet das Leben auf dich! Und das ist nicht nur rosa! Streng dich an! Sonst wird aus dir nichts!« »Hey ja, warte!«, wollte ich ihm hinterher schreien, aber da war er schon weg. Und er hinterließ mir dieses miese Gefühl und einen Haufen Fragen. Was ist das Ernst des Lebens? Und was heißt aus mir nichts werden? Und überhaupt, wieso hat so einer das Recht mir so etwas zu sagen… Irgendwann vergaß ich den Mann mit dem strengen Gesichtsausdruck und wurde älter. Es kam die Zeit, in der das Weltleid auf meinen Schultern saß und Der Ekel zu meinen Gute-Nacht-Geschichten zählte. Worauf eine Epoche des Hedonismus folgte bis hin zum heutigen, etwas gleichgültigerem Dasein. Was letztlich blieb, war die Angst.



Zurück zum Ausgangspunkt.
Ich glaube, man sollte sich öfter dieser Angst bewusst werden und der Lächerlichkeit dieser gegenüber einem so durchorganisierten und sicheren Staat wie Deutschland.
Wenn ich das meinen Eltern sage, dann reagieren sie lächelnd sorgenvoll mit dem Gedanken: »Was soll aus dir nur werden…« Und antworten sowas wie, »wenn wir alle…und dann gäbe es das nicht…« Jaja… weil ihr alle so denkt.



Ich habe kein Smartphone. Keinen Fernseher. Und Facebook verabscheue ich auch.
Wenn ich Leute im Café beobachte, die offensichtlich gemeinsam dort sind, sind sie meist hoch konzentrierten Blickes ihrem Smartphone zugewandt und wischen hastig mit ihrem Finger auf dem Display hin und her. Zwischendurch wird ein kurzer Blickkontakt zum Gegenüber hergestellt, vielleicht will man sich vergewissern, ob derjenige schon den Platz geräumt hat, schließlich fühlt man doch selbst ganz subtil die Unsinnigkeit der Situation oder aber man hat dem Gegenüber gerade etwas Unterhaltsames zugesandt und wartet nun die Reaktion ab, die nur noch mit einem kurzen Lächeln im Gesicht zu finden ist und ansonsten in textualisierter Sprache auf dem Display.
Ich weiß dann oft nicht, welche Seite mehr Zoo-Charakter hat. Ich, als offensichtlich total zurück gebliebener Beobachter, aus einer anderen Zeit stammend mit einem alten Nokia 3310, was man noch via Tasten bedient und man quasi jeden Pixel auf dem Display sehen kann. Oder aber die beiden Homo oeconomicuse, die ab und zu von ihrem Chai Latte trinken und ansonsten lässig über's Smartphone wischen. Wahrscheinlich sind die Gespräche, die sie mit ihren Freunden in China und so wo führen auch tausendmal interessanter als mit ihrem Gegenüber zu reden. Das face-to-face Gerede ist nämlich nicht so globalisiert und weltgewandt. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch sein, dass sie währenddessen der Arbeit nachgehen. Aber auch in diesem Falle hätte dann das Zusammentreffen mit einer anderen Person etwas sehr unpersönliches. 



Diese Unpersönlichkeit nehme ich immer häufiger wahr. Die Leute sind oberflächlich sehr freundlich, als wäre alles ein Verkaufsgespräch, aber weiter geht es oft nicht.
Ähnlich empfinde ich auch eine zunehmende Oberflächlichkeit bei Beziehungen. Gibt sich denn überhaupt noch jemand wirklich Mühe den anderen wirklich kennen zu lernen? Oder wird nicht schon davor wieder der Schlussstrich gezogen?
Jeder hat ein ziemlich genaues Anforderungsprofil, wird der andere dem nicht gerecht: finito. Schließlich hat man weder die Zeit noch die Muße darüber hinaus viel an sich zu arbeiten oder an einer Beziehung. Denn die Arbeit dominiert ja ohnehin schon unser ganz Leben. Dann will man zu Hause einfach nur Ruhe und das alles super läuft – keinen zusätzlichen Stress. Easy Baby!
Wir sind so durchpsychologisiert und rational, können uns alles erklären. Aber um wirkliche Leidenschaft zu empfinden muss man sich fallen lassen können, sich hingeben. Wie aber bitte soll das gehen? Überall werden wir mit Sex und Schönheit überrollt. Oversexed and Underfucked.
Natürlich sind wir alle so reflektiert und wissen, dass das Werbung, Schönheits-und Pornoindustrie sind. Aber irgendwas setzt sich ja dann doch ganz tief versteckt in unserem Unbewussten fest. Und kommt dann schleichend zum Vorschein, ob es nun die feministische Intellektuelle ist, die sich Germanys Next Topmodel ansieht und Vogue liest, obwohl sie das ja alles gar nicht braucht. Oder der 18-jährige, der sich wundert, warum das nicht alles so aussieht und funktioniert, wie in den Filmen, die er sich täglich ansieht. Natürlich sind das Klischés. Aber die kommen ja leider auch nicht aus dem Nichts. Was nicht heißen soll, dass sie sich deswegen begründen. Trotzdem ist an ihnen irgendwo ein Partikel Wahrheit dran und dieser setzt sich eben in unserem Unbewussten fest und macht das wir voller Zynismus ein Glied der funktionierenden Kette werden.



Angst, Leistung und die ständige Beschleunigung, die unendlichen Möglichkeiten, die wir scheinbar haben, machen uns zu unruhigen Geistern, die nicht rasten können, weil eventuell schon die nächste große Chance auf uns wartet. Was diese Chance sein mag, keine Ahnung. Wir wissen nicht, warum wir so gut in diesem System funktionieren uns den Druck auferlegen lassen. Da gibt es kein Ziel. An sich ist das ganze sinnlos. Ein Leerlauf. Der Mensch ist meist am glücklichsten, wenn er Tätigkeiten vollbringt, die autonom und selbstbestimmt sind. Wir meinen das wir selbstbestimmt sind, das bekommen wir verkauft.
Die Religion, und das sage ich als nicht Gläubiger Mensch, der keiner Religion angehört, wurde in unserer Gesellschaft durch den Kapitalismus ersetzt. Natürlich ist das ein Evergreen der Gesellschaftstheoretiker, Soziologen und Religionsphilosophen. Aber da ist schon etwas Wahres dran. Denn die Tugenden, die uns einst die Religion lehrte, gehen nach und nach verloren.
Wir hasten und laufen. Konsumieren. Und verzehren. Ein großes Fressen. Ganz frei nach Marco Ferreri. Es gibt kaum Mäßigung. Wir lenken uns unterbrochen ab, wir stehen nie still – dabei sind wir eine Masse bewegender Stillstand.
Es gibt einzelne, die aussteigen, kein Bock mehr darauf haben – sich verweigern. Es sind einzelne. Hoffentlich werden es mehr. Man kann Stopp schreien, sagen, schreiben.
Und das was uns fehlt, ist wahrscheinlich ein Stück mehr Zwischenmenschlichkeit und Liebe.
Ich will hier keine fürbittenden Worte schreiben. Aber wenn wir uns nur einen Moment zur Ruhe setzen, die Luft anhalten und sehen, dass alles anders geht. Dass es nicht immer so ist, wie wir es meinen. Dass unsere Wirklichkeit nur ein ganz persönlicher Eindruck ist und wir uns daher auch so individuell vorkommen. Dass wir versuchen wollen, jeden durch unser Fenster der Wahrnehumung Erkenntnis sammeln zu lassen. Dass das Ganze problematisch wird, wenn jeder das versucht. Aber das wir auch von uns aus versuchen können, einen andere Perspektive anzunehmen. Jeder kann den Himmel am Boden liegend betrachten. 



Wir müssen keine Angst habe. Ich muss keine Angst habe. Meine Angst ist unrealistisch. Ich kann stehen bleiben im rennenden Stillstand und sehen, was passiert - ich werde mit Sicherheit nicht untergehen. Ich kann meine Kontakte zu anderen Menschen persönlich werden lassen. Den anderen wieder wirklich sehen und Erfahrungen mit ihm sammeln. Das funktioniert nur über eine direkte und menschliche Ebene. 







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