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Und plötzlich ein Clown

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Andreas, 22,

wurde in Australien als Zirkusclown entdeckt.

Schon vor dem Abi war mir klar, dass ich danach gern Work & Travel in Australien machen möchte, aber was Ausgefalleneres als kellnern oder Früchte ernten. Als ich nachts mal nicht schlafen konnte, kam mir der Gedanke, dass es grandios wäre, im Zirkus zu arbeiten. Ich mochte die bunten Zelte schon als Kind.
Am nächsten Tag habe ich also recherchiert und noch von Deutschland aus Bewerbungen an Zirkusse geschrieben. Der Wanderzirkus Silvers hat mir tatsächlich geantwortet: Sie seien zum Zeitpunkt meiner Ankunft sowieso gerade in Melbourne, ich solle einfach vorbeikommen. Damals habe ich schon manchmal gezweifelt, ob ich mir da vielleicht eine Traumwelt zusammenschustere. Jetzt, mit ein bisschen Abstand, kann ich sagen, dass es die beste Entscheidung war, diesen Traum durchzuziehen, obwohl er für manche sicher absurd klang. Es hat mich in vielen Bereichen verändert.
In Melbourne habe ich mich wie verabredet bei dem Zirkus vorgestellt. Sie haben mir gleich einen eigenen Wohnwagen zugeteilt - da wurde ich richtig euphorisch. Dann habe ich allerdings realisiert, dass ich haupt-sächlich als Putzkraft arbeiten sollte: nach der Show die Manege saugen und das Popcorn von den Sitzen kratzen, beim Auf- und Abbau helfen - in der australischen Hitze war das besonders hart. Nach vier Monaten hätte ich wohl hingeschmissen, wenn ich mich nicht mit dem Zauberer Simon angefreundet hätte.
Simon und ich saßen abends oft vor seinem Wohn-wagen und tranken zusammen Wein. Irgendwann hat er dabei gesagt, dass er an einer neuen Illusion arbeitet und mich als Assistenten möchte. Der Trick hieß „Die durchstochene Jungfrau“, und ich musste dafür eine Artistin in eine Kiste tragen, die mit brennenden Dolchen durch-stoßen wurde. Das war nicht ungefährlich, die Dolche waren wirklich spitz. Bei der Premiere habe ich glücklicherweise alles richtig gemacht. Danach hat sich mein Verhältnis zu den Kollegen spürbar verändert. Ich war nicht mehr die gesichtslose Hilfskraft, sondern Teil der Truppe.
Nach einer Weile bat mich der Zirkusdirektor in seinen Wohnwagen. Wir haben Kaffee getrunken und irgendwann sagte er plötzlich: „Andy, wenn die Leute dich sehen, dann müssen sie lachen, dafür brauchst du gar kein Kostüm.“ Aus Höflichkeit habe ich darüber gelacht und bin gegangen. Erst später habe ich realisiert, wie er das meinen könnte. Also habe ich noch mal nachgehakt, ob das sein voller Ernst sei. Ja, sagte er, und dass er mich gern bei der nächsten Station als Clown in der Show hätte: in einer Cowboy-und-Indianer-Nummer mit seinem Sohn.
Bei der Premiere war ich sehr nervös - wir hatten zwar viel geprobt, aber vor richtigem Publikum hatte ich das ja noch nie gemacht! Als mich kurz vor der Show allerdings mein Clownsgesicht im Spiegel anschaute, verpuffte die Unsicherheit. Selbstbewusst ritt ich mit meinem Steckenpferd hinter dem Vorhang hervor in die Mitte der Manege, schlug dort ein Rad und rief: „Tadaaa!“ Und die Leute haben gelacht. Von da an war die Arbeit nur noch Spaß.
Insgesamt habe ich 61 Auftritte als Clown in Australien absolviert, oft zwei am Tag. Dazwischen gingen wir surfen oder baden im Meer. Ich habe viel vom Land gesehen, der Lohn stimmte mit 500 australischen Dollar auch. Ich konnte mir zusammen mit Freunden noch einen Bus kaufen und weiter durchs Land reisen. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich angefangen, in Stuttgart Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Außerdem arbeite ich an einem Buch über meine Zirkuszeit, mithilfe des Kabarettisten Eckart von Hirschhausen.
Ich trete aber auch bei Poetry Slams auf, weil ich durch die Zeit in Australien gelernt habe, dass ich genau
das weiterhin machen will: auf der Bühne stehen und Leute unterhalten.



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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Felix, 28,

wurde während eines Auslandssemesters in Tokio als Model entdeckt.

Der Beginn meiner Modelkarriere war eigentlich unspektakulär: Ich war zum Fotografieren im Ueno-Park in der Nähe der Tokioter Kunstakademie, an der ich studierte. Auf einmal kam ein Typ hektisch auf mich zugelaufen. Im ersten Moment dachte ich, dass ich aus Versehen etwas verbrochen hätte - in Japan wird man schließlich nicht einfach so von Fremden angesprochen. Er fragte mich dann aber auf Englisch, ob ich schon mal gemodelt hätte. Ich verneinte perplex. Der Mann erzählte, dass sein Model für das morgige Shooting ausgefallen sei und ob ich nicht kurzfristig einspringen wolle, es sei auch gut bezahlt. Ich habe mich dann schon kurz gefragt, ob er mich vielleicht verarschen will. Und ob Modeln überhaupt mein Ding ist. Andererseits: In Japan sind die Menschen stets freundlich. Und außerdem war ich ja im Ausland, um neue Erfahrungen zu machen. Also sagte ich zu. „Zuerst fragte ich mich, ob ich gerade verarscht werde.“
Rückblickend war es wirklich super, dass ich in diesem Moment über meinen Schatten gesprungen bin. Ich war schon immer eher ein Typ, der offen ist für Neues. Aber durch diese Entscheidung habe ich mir spontan eine für mich damals noch völlig fremde Welt  erschlossen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Und ich habe gemerkt, wie viele Chancen mir das Leben bietet.
Als ich den Mann am nächsten Tag am Bahnhof traf, wurde mir erst klar, wie naiv ich eigentlich war. Der Typ führte mich zu einem schwarzen Bus mit abgedunkelten Scheiben, in den ich einsteigen sollte. Ich hatte immer noch keine Ahnung, um was für ein Shooting es eigentlich ging und ob das alles seriös war. Ich dachte noch: Okay, wenn du jetzt gekidnappt wirst, dann war’s das. Als mir drei nett aussehende Mädels aus dem Bus zuwinkten, war ich zwar noch nicht restlos überzeugt, aber ich stieg ein. Drinnen hingen überall Klamotten und ich wurde vielen netten Menschen vorgestellt, die mich alle anlächelten. So schlecht kann es nicht werden, dachte ich.
Nach 20 Minuten Fahrt kamen wir an einer Indoor-Eislaufhalle an und ich bekam Winterklamotten rausgelegt. Mehrere Stylisten kümmerten sich um mich, ich erfuhr, dass die Bilder für ein Magazin sein sollten. Der Fotograf hatte eine teure analoge Kamera, auch die Klamotten waren teuer. Es war mein Glück, dass der Fotograf ziemlich locker drauf war und mich nicht wie ein High-Fashion-Model behandelte, sondern wie einen langjährigen Freund. Wir tranken zusammen Kaffee und ich unterhielt mich mit ihm. Nebenbei knipste er Bilder. Am Ende drückte man mir einen Umschlag mit Geld in die Hand und fuhr mich heim.

Bei dem ersten Shooting sprach mich ein Stylist an, ob ich nicht zu einem Casting für die japanische Fashion Week kommen wolle. Ahnungslos bin ich auch dort hinmarschiert. Nach meinem Walk sagte die Jury nur: „Okay, danke schön.“ Ziemlich ernüchternd eigentlich, aber kurze Zeit später kam die Zusage.
Als ich an der Reihe war und zum ersten Mal um die Ecke ins gleißende Licht des Laufstegs bog, traf mich fast der Schlag. Bohrende Blicke von allen Seiten, es waren bestimmt 2000 Leute da. Totaler Fluchtmodus. Da ich aber nicht einfach wegrennen konnte, imitierte ich das, was ich aus dem Fernseher kannte: cool gucken, Verzweiflung nicht anmerken lassen.
Ich habe dann noch häufiger in Japan gemodelt und damit eigentlich mein ganzes Studium dort und noch eine schöne Reise finanziert. Zurück in Deutschland bin ich relativ schnell wieder in meinen Alltagstrott gekommen und habe auch nicht wieder gemodelt. Ich glaube, mein Erfolg in Japan lag vor allem daran, dass ich nicht der optischen Norm dort entspreche. Die Menschen in Tokio wollen möglichst wenig auffallen. Ich trage lange Haare und Bart, in einem japanischen Büro geht das nicht. Vielleicht wurde ich also auch ausgewählt, weil ich etwas verkörpere, das die Menschen dort selbst nicht problemlos leben können.



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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Saskia, 26,
wurde Soap-Schauspielerin in der Türkei.

„Ein Jahr vor der Abiturprüfung, nach der zwölften Klasse, wollte ich raus aus Deutschland. Ich hatte schon eine Ausbildung zur Mediengestalterin abgeschlossen und war dabei, das Abi nachzuholen. Während eines  Urlaubs auf Malta mit meinem damaligen Freund entschied ich mich dann aber dagegen. Die Idee, länger auf Reisen zu gehen, war da schon jahrelang in meinem Kopf gewesen. Ich hatte nur nie den Mut gehabt, wirklich aufzubrechen.
Mein Freund und ich zogen also los nach Kroatien, von dort trampten wir nach Istanbul. Wir waren finanziell komplett auf uns gestellt, mussten also unterwegs jobben. Ich machte Gartenarbeit oder passte auf Truthähne auf, damit sie nicht von Wölfen gerissen wurden. Per Anhalter erreichten wir schließlich Istanbul. Nach einem Monat dort entschloss sich mein Freund, zurück nach Deutschland zu fliegen - es war ihm zu viel, er wollte zurück. Wir trennten uns, denn ich wusste: Ich will im Ausland bleiben.
„Ich hatte noch nie geschauspielert - nicht mal in der Theater-AG.“
Ich fing an, in dem Hostel zu arbeiten, in dem ich in Istanbul wohnte. Eines Tages stand der Manager einer türkischen Fernsehproduktionsfirma bei mir an der Rezeption. Er suchte eine Deutsche, die in einer Soap mitspielen wollte. Die Serie hieß „Seksenler“ - das heißt so viel wie „Die Achtziger“ - und lief regelmäßig im türkischen Fernsehen. Bei der Rolle handelte es sich um eine Punkerin - dass meine Haare zu dem Zeitpunkt pink waren: Zufall.
Ich sagte zu, dabei hatte ich bis dahin noch nie geschauspielert - nicht mal in der Theater-AG. Zwei- bis dreimal die Woche hatten wir Dreharbeiten, von morgens um neun bis abends um sieben. Ich hatte eigentlich keine Ahnung, worum es in der Fernsehserie ging, sie lief ja auf Türkisch. Das war für meinen Job aber auch gar nicht wichtig, das meiste dort war Improvisation: Es gab keinen vorgefertigten Text, mir wurde immer in Mini-Abschnitten mitgeteilt, was ich als Nächstes auf Deutsch sagen sollte. Die Kommunikation war oft etwas schwierig. Die Mitarbeiter dort verstanden kein Wort Deutsch, ihr Englisch war auch nicht gut. Mehrmals mussten sie sogar einen Übersetzer anrufen. Im Fernsehen wurde mein Text dann mit türkischen Untertiteln unterlegt.
Einmal wurde ich in Istanbul auch erkannt, obwohl ich privat viel weniger aufgebrezelt herumlief als in der
Serie. Ich beantragte gerade ein Visum, weil ich nach Indien weiterreisen wollte. Die Sachbearbeiterin dort fragte mich, ob ich das Punk-Mädchen aus „Seksenler“ sei. Wir haben zusammen ein Selfie gemacht, sie war superhappy.
Die Zeit beim Fernsehen war eine interessante Erfahrung für mich, eine gute Möglichkeit, etwas Neues zu machen. Auch wenn ich nicht weiter in diese Richtung gegangen bin, eine Bereicherung war es. Und gut verdient habe ich auch.
Ich glaube nicht an Schicksal, erst recht nicht mehr seit meiner Reise. Ein Freund, den ich unterwegs kennengelernt habe, meinte einmal: „You create your own reality.“ Dem kann ich mich anschließen. Vor meiner Reise dachte ich: Die Welt und mein Leben sind scheiße. Jetzt denke ich: Alles ist gut, wenn ich nur darauf vertraue, dass alles gut wird.




Text: charlotte-haunhorst - und Tim Kummert

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