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Auf der Anklagebank - Mal wieder ich.

Text: frauP

Ja, kommen Sie doch. Da setzen Sie sich hin. Hier in die erste Reihe. Da vorne. Ihr Stuhl steht bereit. Sie kennen das ja schon. Der Stuhl ist fast noch warm. Von gestern, nein eigentlich von heute Nacht. Naja, ganz warm ist er nicht mehr. Sie sind ja dann irgendwie davon gekommen.

Ja, heute Nacht habe ich A. geweckt, vielleicht war er auch wach, ich erzählte ihm, dass ich an einer Kreuzung stehe, und wie immer fehlen die Hinweisschilder. Aber eigentlich ist es auch keine Kreuzung. Vielleicht eher eine Brücke  und ich muss drüber und dieser Weg ist im Dunkeln, ich muss die Hoffnung und den Mut und den Glauben haben, auf der anderen Seite anzukommen.
Ich habe die Hoffnung und den Mut und den Glauben manchmal, dann gehe ich ein paar Schritte, aber dann wieder nicht. Wie heute Nacht. Ich frage mich, wie die anderen das schaffen, einfach zu gehen, eigentlich ja.
Nur einen Schritt vor den anderen setzen, nicht nachdenken. Gehen, gehen, gehen. Eine Freundin singt mir vor: "Einfach schwimmen, einfach schwimmen." Das ist aus "Findet Nemo" sagt sie.


Ja, die Brücke, sehen Sie, da haben Sie sich davon gemacht, haben die Anklagepunkte nicht weiter angehört, dabei gäbe es noch so viel zu sagen, über Ihre - Unzulänglichkeiten, Defizite. Mehr brauchen wir aber auch gar nicht zu sagen: Sie sehen es ja selbst. Hier und hier und hier.
Schauen Sie sich an. Ja, allein schon, wie Sie wieder auf dem Stuhl hängen! Nehmen Sie doch Haltung an! Verhalten Sie sich wenigstens so, als SEIEN Sie erwachsen. TUN Sie wenigstens so, als KÖNNTE man Sie ernst nehmen.

Ich nehme mich nicht ernst. Ich meine, ich weiß nicht, wie es geht. Ich fühle mich nicht, als sollte man mich ernst nehmen. Ich möchte eigentlich weglaufen. Ich möchte mich verstecken. Ich will mich diesen bescheuerten Erwachsenen-Herausforderungen nicht stellen müssen.
Ich möchte, dass ich nichts damit zu tun haben muss. Dass nichts von mir erwartet wird. Das es einfach keine Rolle spielt. Ich will keine Verantwortung haben. Kann bitte jemand kommen und diese Verantwortung wegnehmen? Hier bitte. Bitte schön! Ich will das nicht.


Die anwesende Richterin lächelt.

 Warum ist es denn eine Richterin? Sieht ein bisschen aus, wie Barbara Salesch. Aber nur ein bisschen. Weniger - gutmütig. Dunkler, strenger, keine lustigen roten Haare. Das würde sicher nur ablenken.

Sie lächelt und sagt plötzlich: Na, sehen Sie! Jaja. Gehen Sie mal ein bisschen spazieren. Frische Luft und so. Sie können gehen und kommen wieder. Wann Sie wollen, jederzeit. Wir haben den Stuhl für Sie hier stehen. Es ist Ihr Stuhl. Machen Sie sich keine Sorgen. Gehen Sie und laufen Sie etwas herum. Lassen Sie Ihren Freund nachts schlafen. Hören Sie auf, Trübsal zu blasen. Wann immer Sie wollen, kommen Sie wieder her.

Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Ich sage gar nichts. Ich denke an die Orte, die ich verloren habe, an die ich nicht mehr zurückkehren kann. Gestern ist mir ein solcher Ort auf Fotos begegnet. Da waren Menschen, denen ich mich nah fühlte und ich war nicht mehr dabei. Ich gehörte nicht mehr dazu. Sie haben anscheinend auch ohne mich weitergefeiert. Sie haben mich nicht vermisst, sie waren vollständig ohne mich. Ich habe diesen Ort verloren, die Tür ist geschlossen, ich kann nicht dorthin zurückkehren. Ich muss also über die Brücke gehen und andere Orte finden.

Vielleicht ist das das Schmerzhafte daran. Vielleicht ist es das, was am meisten wehtut. Dass ich gar keine Wahl habe. Ich kann den Zeitpunkt hinauszögern, aber ich werde gehen müssen.
 



Je länger ich darüber nachdenke, desto tröstlicher erscheint mir diese Brücke. Eine einfache, gerade Strecke. Einen Schritt vor den anderen setzen, keine Wahl haben. Vielleicht ist es auch gut, dass sich alles im Dunkeln befindet.

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