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Plötzlich wieder da

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In einer Mystery-Serie würde es in solchen Momenten kurz hell aufblitzen. Danach wären die Farben sepia-getönt, die Musik hätte sich geändert, vielleicht würde auch die Kamera ein wenig wackeln. Das alles würde signalisieren: Flashback! Erinnerung! Rückblick!

Wenn man länger in München lebt oder erwachsen wird, verbringt man hier viele verschiedene Lebensphasen. Die Stadt bleibt dieselbe, man selbst wird ein anderer. Gerade wenn man jung ist, sind diese Veränderungen ziemlich häufig und ziemlich grundsätzlich. Mit 15 Jahren nimmt man einen Ort ganz anders wahr als mit 18, und mit 25 noch mal ganz anders.

Deshalb sind diese Flashback-Momente so intensiv und beeindruckend: Man geht mit 28 die Straße entlang, und plötzlich sieht man etwas, das einen in eine andere Zeit katapultiert. Man ist dann für einen kurzen Moment wieder 16 oder 22. Man sieht diesen Ort so, wie man ihn damals sah, man spürt wieder, wie sich das Leben damals anfühlte.

Es sind oft Kleinigkeiten, die diese Zeitreisen auslösen. Der schiefe Baum an der Kreuzung, das herausgebrochene Stück Mauer, ein ganz bestimmter Blickwinkel auf ein paar Treppenstufen. Wenn genau diese Kleinigkeiten vor dem Auge auftauchen, scheinen sie ein Bild anzuknipsen, das irgendwo in der Erinnerung schlummert und sich jetzt kurz über die Realität legt. Das kann schön sein, traurig oder beängstigend. In jedem Fall ist es: besonders. Sechs kleine Zeitreisen:
 

Die Haltestelle der Ex

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der Ort: Westend, Heimeranstraße Ecke Ligsalzstraße, der U-Bahn-Aufgang Schwanthalerhöhe. Eine U-Bahn-Treppe wie es Hunderte in in München gibt: graue Stufen, es zieht ein bisschen, oben auf dem Gehsteig ein paar angekettete Fahrradleichen, eine Litfaßsäule, stumme Zeitungsverkäufer, Altglascontainer.

Der Auslöser: Früher Abend, ich bin auf dem Weg zur Alten Kongresshalle. Ich war in Gedanken, habe nicht darauf geachtet, welchen Ausgang ich nehme, bin einfach meinen Füße gefolgt. Dann: Rolltreppe, Blick nach oben. Ab einer bestimmten Höhe wird die Litfaßsäule sichtbar, dann die rote Wand des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Moment! Dieses Bild kenne ich. Aus einer anderen Zeit. Ich fliege in die Vergangenheit.

Die Erinnerung: Meine Füße haben diesen Weg wahrscheinlich gewählt, weil sie einem alten Automatismus gefolgt sind. Sie sind den Weg damals sehr oft gegangen, das Ziel war die Wohnung meiner damaligen Freundin. Die Treppe rauf, rechts, vorbei am Tattoo-Studio, an der Kreuzung links, und dann konnte ich schon einen Blick nach oben werfen und sehen, ob in der Küche Licht brannte oder sie am Fenster saß und rauchte.
Es kommen Erinnerungen an Abende in dieser Küche, an das Aufwachen im Zimmer daneben, an ihr verschlafenes Murren, wenn der Supermarkt gegenüber um sechs Uhr früh lärmend beliefert wurde – kleine Momente einer längst vergangenen Beziehung.

Die Reaktion: Kurzes Innehalten auf der Rolltreppe, als hätte mich jemand überrascht, indem er mir auf die Schulter tippt. Am ehesten gleicht das Gefühl wohl tatsächlich einem Erschrecken. So plötzlich und ohne Vorwarnung an alte Gefühle erinnert zu werden, ist meistens komisch – die schlummern normalerweise gut verstaut in einem Kellerabteil der Seele. Man will ja nicht ständig drüberstolpern.


Der erste Studentenjob

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der Ort: Das „Café an der Uni“ gegenüber der Universität. Ein Innenhof mit Alu-Stühlen, drinnen das typisch maxvorstädtische Interieur: hüfthohe Wandvertäfelung, ein bisschen Bierwerbung an der Wand, ein paar dekorativ befüllte Bücherregale, eine Wand mit unverputzten Backsteinen. Weder extrem schön noch extrem scheußlich – guter, solider Uni-Mittelstand, mit dem man weder Juristen verschreckt noch Komparatisten anödet.

Der Auslöser: Es passiert nicht oft, dass man die Orte rund um den eigenen Unicampus von früher besucht. Wenn doch, dann, weil nebenan der Englische Garten beginnt und der Kaffee zum Mitnehmen hier besser ist als der im Backshop an der U-Bahn. Ich betrete also zum ersten Mal seit Jahren wieder das Café an der Uni, gehe den Schlängelweg durch den Innenhof, vorbei an Kellnerinnen, die ich noch nie gesehen habe. Sie tragen aber immer noch die gleichen dunklen Tops und die gleichen Knödelfrisuren wie die Kellnerinnen damals. Ich stelle mich an die Bar, um den Kaffee zu bestellen – und sehe den Barmann an der Espressomaschine. Wobei, eigentlich ist das eher ein Barbub. So wie ich, als ich hier früher arbeitete.

Die Erinnerung: Den Job hat mir eine Freundin zugeschustert, obwohl ich die Grundvoraussetzung gar nicht erfülle – ich habe noch nie „in der Gastro“ gearbeitet. Also: bekomme ich die Montagsschicht. Da ist eh nix los. Die ersten beiden Semester stümpere ich vor mich hin, verwechsle Pils mit Hellem, mische Whisky in Caipirinhas und verschütte Milchschaum in alle verfügbaren Ritzen der Bar – engelsgeduldig unterstützt von den Knödelfrisurenmädchen mit den dunklen Tops. In diesen Monaten lerne ich zwei Dinge: Erstens, dass man ein Jahr lang als Barkeeper arbeiten kann, ohne die Kopf-Hand-Koordination auch nur ansatzweise zu verbessern. Und zweitens, wie man richtig gründlich putzt.

Die Reaktion: Ich beuge mich zum Barbub und sage: „Nur keine Eile mit dem Kaffee.“ Dann gebe ich ihm sittenwidrig viel Trinkgeld.


Das alte Ausflugsziel

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der Ort: Das Olympia-Eissportzentrum, genauer: die ovale Halle mit dem hellen Zeltdach, in der das Eis längst anderen Freizeitspäßen wie Hallenfußball Platz gemacht hat.

Der Auslöser: Ich bin auf dem Weg zu einem Eishockey-Spiel des EHC München. Ich laufe vom Parkdeck um das Eissportzentrum herum, blicke nach links, dort wölbt sich das Zeltdach – und zack, bin ich wieder 12 Jahre alt.

Die Erinnerung: Wo heute vor allem gekickt wird, war früher die „Action Area“. Eine Halle voller Halfpipes, Miniramps und Rails zum Skaten oder Inline-Skaten. Mit 11 oder 12 fahren meine Freunde und ich hier jedes Wochenende hin. Wir ziehen unsere stinkenden Knieschoner und die Inline-Skates schon in der U3 an, damit wir um 10 Uhr, wenn die Action Area öffnet, die ersten sind und die Halfpipe nicht mit den Großen teilen müssen, die einen Bart haben und höher als zwei Zentimeter über die Kante der Pipe hinausspringen können. Wir fahren den ganzen Tag herum, außer Felix, der knutscht ab 13 Uhr. Timmi übt „Oneeighty über drei Hütchen“ und nervt den Typen, der einen Sponsor hat. Auf dem Rückweg kaufen wir uns einen großen Slush Puppie.

Die Reaktion: Zuerst Grinsen – der Ort, an den man mit 12 jedes Wochenende fährt, ist rückblickend ein Ort maximaler Unbeschwertheit. Dann Erschrecken: Ist nämlich ganz schön lange her, das alles.



Die erste WG in der Stadt

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der Ort: Der Kurfürstenplatz in Schwabing. In der Mitte liegt eine Insel mit Kiosk und großen Kastanien, drumherum laufen der dezente Schwabinger Verkehr und ein paar Tramgleise. Oben teilt der Platz die Hohenzollernstraße, im Norden in der Belgradstraße lag meine erste WG.

Der Auslöser: Ich bin bei einer Freundin zum Essen eingeladen und muss den Platz überqueren. Da steht diese Kastanie neben dem Kiosk. Die Krone ragt oben durch das Netz aus Oberleitungen, fahl angeleuchtet von den Straßenlaternen ringsum.

Die Erinnerung: Ich stehe nachts mit drei Freunden genau hier, an der Tramstation, auf dem Weg in die Innenstadt – zum Feiern in die Clubs, die wir vom Hörensagen kennen. Ich bin 20 und vor ein paar Wochen hierher gezogen. Mitten in die Stadt. Seither übernachten jedes Wochenende irgendwelche Freunde bei mir, die noch bei ihren Eltern wohnen. Niemand von uns hätte vorher gewusst, wo der Kurfürstenplatz genau liegt. Jetzt ist er der eine bekannte Fleck, von dem aus wir diese fremde Stadt erkunden. Meine Orientierung reicht nur ein paar Häuserblöcke weit. In die meisten Straßen, die am Kurfürstenplatz münden, bin ich noch nie eingebogen. Die Kastanieninsel ist der erste mir bekannte Fleck in Schwabing.

Die Reaktion: Kurzer Moment der Reflexion. Gedanke: Ich muss! Endlich! Mal wieder! In eine neue Stadt ziehen! Dann: Augen auf, Arm um die Freundin gelegt, rüber über die Straße und rauf in die Wohnung zum schönen Abendessen.


Der Fahrradunfall

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der Ort: Ohlmüllerstraße, hinter dem Mariahilfplatz. Eine Riesenkreuzung mit Fahrradweg, im Hintergrund erhebt sich der Giesing Berg, obendrauf ein Schornstein.

Der Auslöser: Ich fahre mal wieder mit dem Rad zum Sport. Am Mariahilfplatz erwische ich eine Grünphase, ich kann Vollgas durchradeln. Praktisch, weil: Ich brauche Schwung für den Giesinger Berg. Die Reifen meines Rennrads zischen, nur im Augenwinkel sehe ich die Sparkasse rechts an mir vorbeifliegen und links die Tramstation.

Die Erinnerung: Vor zwei Jahren im Sommer – ich auf dem Weg zum Sport. Vor der Arbeit. Gleiches Szenario, nur mit damals neuem Rennrad. Es hat Klickpedale aus Plastik, ich trage Turnschuhe. Die Ampel wird grün, ich beschleunige wie blöd die Ohlmüller rauf, immer noch total überrascht, wie schnell so ein Rennrad von null auf vierzig kommt, ich trete im Stehen voll rein, rechts zischt die Sparkasse vorbei, links die Tramstation, den Berg werde ich rauffliegen! Dann rutscht meine Sohle vom Pedal. Ich trete ins Nichts, das Rad schlingert nach links auf die Straße, ich fliege über den Lenker und das Rad über mich. Dass jetzt kein Auto kommt und mich überrollt, ist reiner Zufall.

Die Reaktion: Adrenalin. Das Gefühl des Fallens, die Erleichterung über das Riesenglück von damals. Der schmale Grat zwischen Alltag und Lebensgefahr ist plötzlich gut sichtbar. Ich prüfe, ob die Schuhe gut auf dem Pedal sitzen. Kurz der Gedanke: Diesen Sommer montiere ich aber wirklich mal normale Pedale an mein Rad. Dann trete ich weiter. Gleich fängt ja die Steigung an.


Die Polizeikontrolle

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der Ort: Direkt neben dem Isartor gibt es eine kleine Seitenstraße namens „Lueg ins Land“. Neben hübschen Altstadthäusern steht hier auch ein Neubau, und davor ragt eine etwa hüfthohe Backsteinmauer aus dem Kopfsteinpflaster.

Der Auslöser: Diese Mauer ist Treffpunkt für eine „kulinarische Stadtführung“. Habe ich zum Geburtstag geschenkt bekommen. Wir warten, bis alle Teilnehmer da sind, der Stadtführer erklärt in der Zwischenzeit, dass die Mauer ein Rest der mittelalterlichen Stadtmauer ist. Ich kann ihm aber gerade nicht folgen, denn ich erinnere mich gerade an das letzte Mal, als ich hier stand und wartete.

Die Erinnerung: „Wenn ich schon in aller Öffentlichkeit meinen Penis rausholen muss, darf ich dann wenigstens hinter die Mauer gehen?“ Diesen Satz höre ich vor meinem inneren Ohr. Ein Kumpel sagt ihn an einem Samstagabend vor ein paar Jahren gegen zwei Uhr nachts zu einem Polizisten, der uns angehalten hat. Warum? Vielleicht, weil wir vier Jungs in einem verbeulten Opel Corsa sind und zwei davon, Fahrer inklusive, Dreadlocks tragen. Und weil an dem Abend ganz in der Nähe in der Muffathalle ein Reggae-Konzert stattgefunden hat. Während wir warten, muss der Fahrer sich in die Augen leuchten lassen und ein paar Spielchen mit den Polizisten spielen (Geradeausgehen, schätzen, wann eine Minute vorbei ist). Irgendwann einigt man sich auf die Abgabe einer Urinprobe. Hinter den Überresten der Münchner Stadtmauer.

Die Reaktion: Ich hole mein Handy aus der Hosentasche, öffne eine Musik-App und tippe in die Suchmaske: „John Holt, Police in Helicopter“.

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