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Pendler und Selbstmörder

Text: klinsmaus

Von den allermeisten Menschen will ich nichts wissen. Ich erwarte nur, dass sie okay riechen, den Mund halten und sich nach Möglichkeit nicht dahinsetzen wollen, wo meine Tasche gerade steht. Auf keinen Fall sollen sie Leberkässemmeln essen, mir Zeitungsblätter ins Gesicht pieken und mit überdrehten Stimmen über ihre Erweckungserlebnisse berichten. Das wollen die restlichen 200 Menschen im Wagen 26 des ICE „Fontanestadt Neuruppin“ / „Bochum“ / „Templin“ auch nicht. Es ist 6.30 Uhr, um Himmels willen. Schlimm genug, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt mit Zugfahren beschäftigen müssen. Da ist eine Dreiviertelstunde Klappe halten doch nicht zu viel verlangt, oder?



Pendeln nervt. Es bedeutet früh aufstehen, spät heimkommen und zu viel Deutsche Bahn in seinem Leben zu haben. Schwarze Zeitlöcher tun sich wie aus dem Nichts auf, dafür lernt die ganze Bandbreite der Möglichkeiten kennen, warum sich die Weiterfahrt des Zuges noch um wenige Minuten verzögert. Ganz oben auf der Liste übrigens die technische Störung und das Warten auf einen Anschlusszug. Es kann aber auch der Steuerungswagen kaputt sein, sodass wir „um Donauwörth drumrumfahren mussten.“ Oder jemand lässt sich zum allgemeinen Pendlergejohle über „die Unfähigkeit einiger Mitarbeiter“ aus. Leider ist nichts davon so originell, dass es regelmäßigen Zeit-Kontrollverlust wettmachen würde. Und rechthaberische Schaffner machen die Sache halt nicht besser.



Tatsache ist: Pendler sind arme Wutzis. Ich hätte auch direkt Mitleid mit ihnen, wenn sie nicht die größte Landplage von allen wären. Sie sind wie ich. Weil alle genau wissen, wie arm sie doch dran sind, nehmen sie sich einiges raus. Schon beim Einsteigen taxieren die Fenstersitzplatzergatterer die Sitzplatzsucher mit feindseligen Schlitzaugen – dabei liegt die Chance auf einen Doppelsitzplatz in diesem Zug eh im Lottogewinnbereich. Als neulich ein Pferdeschwanzmädchen ihren niedlichen Winzkörper über zwei Sitze drapierte, um ganz selbstverständlich mit fest zuen Klimperaugen zu schlafen, musste ich sehr an mich halten, nicht an ihren Haaren zu rupfen.



Ein mittelalter Managertyp weigerte sich einmal, der Schaffnerin seine Karte in die Hand zu geben. Als die mit einem verschlafenen Polizisten anrückte, den sie ein paar Wagen weiter hinten aufgetrieben hatte, behauptete er, die Schaffnerin habe nach seinem Geldbeutel gegriffen. Dafür bekam er Zuspruch von den restlichen mittelalten Managertypen im Wagen. Dabei hatten sich außer dem Polizisten eigentlich alle Beteiligten ziemlich behämmert verhalten.



Vor Kurzem fuhr nur ein halber ICE, aus dem die stehenden Pendler so hasserfüllt starrten, dass ich mich nicht reintraute und lieber den nächsten Regionalexpress nahm, der ebenfalls auf der Strecke fuhr. Der startete dann mit 15 Minuten Verzögerung, weil irgendwas beim Kuppeln nicht passiert war. Meinen Kollegen war die halbe Stunde Verspätung zum Glück recht egal. Wichtiger war eh, in welchem Biergarten wir Mittag essen wollten. Es war der erste richtige Frühlingstag.



Acht Stunden später lag der komplette Zugverkehr zwischen meinen Pendelstädten lahm. Es hatte einen „Notarzteinsatz am Gleis“ gegeben, der die Strecke über Stunden unbefahrbar machte. Jemand hatte sich also umgebracht. „Wie kann man bei diesem Wetter nur an Selbstmord denken?“, tönte es vom Bahnsteig. (Statistisch gesehen bringen sich die meisten Menschen im April um.) Später, als sich der Pendlerverkehr von zwei Stunden, sich in einem Regionalexpress stapelte, kam die Frage auf, wo das Rote Kreuz blieb. „Normal bringt das bei sowas immer Decken und Wasser.“ Warum mussten sich „diese Menschen“ überhaupt immer im Berufsverkehr von der Brücke stürzen? Die konnten das doch machen, wann sie wollten. Sie hatten doch eh nichts anderes mehr vor.



„Seien Sie nicht so dumm“, sagte eine ältere Dame, die zwischen Tür und Drehstange eingequetscht war, leise. „Der Zug hat höchstens eine Stunde Verspätung.“ Offensichtlich sind doch nicht alle Pendler dauergereizt, selbstbezogen und mimosig. 

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