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Wirtschaftsflüchtlinge

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Kann ja eine wichtige Frage werden: „Was tun, wenn die Wildsau kommt?“ Bestimmt fragt der Berliner sich das auch manchmal. Trotzdem schwingt da München mit. Was vielleicht auch daran liegt, dass in dem Raum sonst viel Alpenkitsch in Bilderrahmen hängt. Die Frage steht schräg rechts über der Tür zur Damentoilette, an der ockerfarbenen Wand des Valentin Stüberls, mitten in Berlin-Neukölln, auf einem aus der Bild ausgeschnittenen Artikel. Der Zettel ist relativ klein. Man übersieht ihn leicht, auch, weil er sich sehr gut in die mit Plakaten übersäte Wand einfügt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Abends im Valentin Stüberl in Berlin Neukölln.

Und das Interessante ist nun: Trotz der Bergbilder und der Bierbänke übersieht man auch leicht, dass das Valentin Stüberl eine Kneipe mit bayerischem Einschlag ist. Denn auch sie fügt sich gut ein – ins Stadtbild. Peter Grosshauser, der Wirt, ist Anfang 50, Bayer und Fan von Karl Valentin. Daher der Name. Daher aber auch die Haltung, die er seiner Bar gegeben hat: Wenig „Mia san Mia“, mehr Understatement. Da ist Heimatgefühl. Aber es mischt sich mit lokalen Farben.
 
Wer Bayern in Berlin sucht, kann inzwischen theoretisch einen beliebigen Späti betreten. Überall wird Augustiner, Tegernseer und Chiemseer verkauft. Seit 2011 gibt es am Alexanderplatz ein gigantisches Hofbräuhaus. Am Gendarmenmarkt in Mitte leuchten die Brauhäuser von Augustiner und Löwenbräu um die Wette und sind immer derart mit Touristen überfüllt, dass die bedirndelten Bedienungen einem nach 19 Uhr selten einen Platz anbieten können. Diese Liste ließe sich noch lange fortführen – mit Namen wie „Lindenbräu im Sonycenter“, „Paulaner im Spreebogen“ oder „Zur Haxe“.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Peter Grosshauser ist Wirt im Stüberl. Vorher hat er lange in München gelebt.

Aber auch abseits der Touristenläden gibt es wohl Nachfrage: Die Bayern mögen Berlin. Im Jahr 2013 waren sie mit 8300 Menschen die drittgrößte Zuzugsgruppe innerhalb von Deutschland. Vor den Schwaben. Nur aus Brandenburg und NRW kamen noch mehr Einwohner dazu. Entsteht da in Berlin also gerade eine bayerische Exklave? Und kompensieren die Auswanderer mit ihren Kneipen Heimweh und Nostalgie? Oder wird das Münchnerische gerade zum Trend? Weil es gelernt hat, sich einzufügen in ein anderes Umfeld?

"Dürfen ist Pflicht": ein sehr münchnerisches Motto, mit dem man sogar Berliner erobern kann 

Peter in seinem Stüberl gefällt es so, da wird das „Warum?“ ziemlich egal. Er ist ein Typ, der einem einen Kräuterschnaps anbietet, wenn der Tee aus ist. Auch in München war Peter schon Künstler und Wirt. Ersteres hat sehr gut funktioniert, zweiteres eher nicht. Also ging er nach Berlin. Auch, weil er sich in München immer „wie unter einer Käseglocke“ gefühlt hat. Aber wie das so ist, mit dem Münchner, der seine Stadt verlässt: Er mag das oft aus Überzeugung tun, aber selten ganz. 2008 eröffnete Peter in Berlin sein Valentin Stüberl. 2011 kam am anderen Ende Neuköllns in einem ehemaligen Puff die Liesl hinzu, benannt nach Valentins Partnerin. Er sagt, er habe halt die guten Sachen seiner Heimat mitgebracht („das Bier, die Mentalität“) und die schlechten zurückgelassen („die Enge, das Sich-anpassen-müssen“).
 
Zwei bayerische Kneipen inmitten von Berlins Szenekiezen also. Aber eben nicht nur bayerische: „Dürfen ist Pflicht“ hat Peter mit Kreide über die Tür zwischen dem Vorderzimmer mit Bierbänken und dem Hinterzimmer für Konzerte geschrieben.
 
„Das ist mein Motto hier in der Kneipe – gerade weil es auch vom Karl Valentin hätte kommen können“, erklärt er. Sein Tonfall wird da noch ein paar Nuancen bayerischer. Dann zündet er sich noch eine Selbstgedrehte auf der Bierbank an. „Dürfen ist Pflicht“, das meint auch: Bayer sein ist hier okay. Muss aber eben auch nicht sein. Dieses sehr bayerische Motto ist vielleicht tatsächlich geeignet, selbst Berlin zu erobern.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Stüberl gibt es auch Alpenkitsch. Trotzdem ist es keine typische bayerische Kneipe.

Fünf Kilometer vom Stüberl entfernt, in Kreuzberg, könnte es jedenfalls auch sehr gut über der Tür stehen. Hier betreibt Thomas Nolff das Martinique, eine Kneipe, bei der nicht einmal der Name verrät, was sich dahinter verbirgt. Erst, wenn man den Laden an einem Samstagnachmittag betritt, fügt sich ein Bild zusammen: Im Martinique tragen dann nämlich alle rot. Hier ist das Stammquartier der „FC Bayern Hauptstadt Supporters“ – dem Berliner Fanclub von Bayern München. Heute spielt die Mannschaft gegen Werder Bremen. Dass die Reporterin aus der Gegend um Bremen kommt, stört keinen. Lieber stößt man mit einem Weihenstephan vom Fass darauf an. Was auffällt: Die meisten Mitglieder der Hauptstadt Supporters sind keine Bayern, sondern Berliner. Aber sie sagen: „Wir lieben den Süden“. Deshalb organisieren sie Fahrten nach München, bayerische Abende und Stammtische.

>>> Der erste Auftritt von "LaBrassBanda" in Berlin und warum bayerischen Traditionen in der Hauptstadt so erfolgreich sind.



Wirt Thomas ist Anfang 40, trägt Bayernschürze und Glatze und ist in Bayern aufgewachsen. „Dann habe ich Urlaub in Berlin gemacht und bin nie wieder zurückgegangen.“ 2009 hat er das Martinique eröffnet – sein Vater kommt von der Insel. Seitdem serviert er dort Cross-Kitchen mit kreolischem, schwäbischem und bayerischem Essen. Ähnlich wie Peter aus dem Stüberl hat auch er Traditionen mitgenommen und verändert – so, dass sie in die Hauptstadt passen und gleichzeitig ein Stück Zuhause erhalten bleibt. Die Sache mit dem Fanclub war auch nicht geplant, sondern entstand über eine Thekenfreundschaft: Der Präsident der Hauptstadt Supporters wollte einen Ort für die vielen Bayern-Fans in der Stadt schaffen – Thomas hatte die Räume. „Leider hatte die Kneipe schon einen Namen, bevor wir hier eingefallen sind. Sonst hätte Thomas es ‚Zu Franz‘ oder so nennen müssen“, sagt Präsident Peter heute. Er ist übrigens Berliner.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Martinique in Berlin-Kreuzberg treffen sich die FC Bayern Hauptstadt Supporters.
 
Ortswechsel zurück ins Valentin Stüberl. Es wird langsam voller. Später steht noch ein Konzert der skandinavischen Band Nezelhorns In An Elephant String an. „Arg kompliziert“ findet Peter den Namen. Die Jungs von der Band – Tunnel in den Ohren und bis zum Adamsapfel zugeknöpfte Hemden – bekommen vor ihrem Auftritt Weißwürste serviert und trinken Helles. An der Theke unterhält sich ein bayerischer Freund von Peter mit dem Barkeeper. „Dürfen ist Pflicht“, sagt Peter immer wieder. Und noch: „Diese Kneipe ist für mich mehr als eine Wirtschaft“.

LaBrassBanda spielten im Stüberl ihr erstes Berlin-Konzert 

Wer an die Wände schaut, versteht, was er meint. Über der Tür vom Herren-Klo, ein paar Meter neben der Wildsau, blickt eine Kuh von einem türkis-verblichenen Plakat. „LaBrassBanda“ steht über der Kuh. Die Band hat im Stüberl „Zum Dämmerschoppen“ gespielt. Beginn: 17 Uhr. 2008 war das. Der erste Auftritt der mittlerweile berühmten Band in Berlin. „Das war von der Lautstärke wie bei einer türkischen Hochzeit, das ganze Stüberl hat im Takt gebebt“, erinnert sich Peter. Ein bisschen Angst hatte er schon, dass die Polizei kommt, aber stattdessen hätten die Leute auf der Straße einfach mitgewippt.
 
Wenn LaBrassBanda heute in der Berliner Columbiahalle vor mehr als 3000 Zuschauern spielen, rufen sie manchmal immer noch „Geh’n wir nachher noch aufs Stüberl?!“ Und dann freut sich Peter. Er steht bei den Konzerten auf der Gästeliste. Oft kommt die Band dann übrigens tatsächlich noch vorbei und sein Laden ist voll.
 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

LaBrassBanda hatten ihren ersten Auftritt in Berlin im Stüberl. Das Tourplakat hängt immer noch an der Wand.

Peter hegt auch gute Beziehungen zum Münchner Plattenlabel Trikont. Das Stüberl ist mittlerweile einer der ersten Orte, an denen die ihre Bands Berlin erproben lassen. Auch Kofelgschroa haben hier gespielt. Die Kneipe ist also tatsächlich nicht nur eine Wirtschaft – sie ist ein Treffpunkt für alle, die irgendwie mit bayerischen Traditionen in Berührung kommen wollen – sei es über das Essen, die Musik oder auch das Schafkopfturnier, das auf einer Schiefertafel beworben wird. Anders als in den großen Brauhäusern in Mitte trägt hier dabei nur niemand ein Dirndl. Die neuen bayerischen Läden funktionieren ähnlich wie die Musik von LaBrassBanda oder Kofelgschroa: Die Traditionen sind noch spürbar. Der Umgang mit ihnen ist aber unverkrampfter geworden – und damit wohl wieder natürlicher. Peters Kollegin Simi, die im Stüberl kellnert und selbst regelmäßig auftritt, bringt es auf den Punkt: „Traditionen sind ja generell nichts Schlechtes. Man muss nur manchmal den Mut haben, sie weiterzuentwickeln.“ 
 
Noch mal ins Martinique: Denn auch, wenn viele Gäste aus Berlin stammen – auch Bayern kommen immer wieder hierher. Vielleicht, weil sie nur ein Spiel schauen wollen, vielleicht aber auch wegen der Vernetzung. Kellnerin Julia, 23, und aus München, hat so ihren Job bekommen: „Ich wollte hier eigentlich nur ein Spiel schauen und über das Gespräch am Tresen hatte ich dann einen Job.“ Ihre Beobachtung ist, dass die Bayern sich an den Orten, an denen es heimisches Bier in passender Atmosphäre gibt, halt doch immer wieder zusammenrotten würden. Ihr Chef Thomas glaubt, das läge auch an der Mentalität der Bayern: „Die rücken zusammen. Berlin ist schon sehr anonym, man braucht eine Zeit, bis man hier ankommt. Wenn man sich mit Leuten von zu Hause zusammentut, geht das schneller.“ Viele in dem Lokal sind auch in der Facebook-Gruppe „Bayern in Berlin“ aktiv, in der man sich hilft und austauscht.
 
Vielleicht ist die Inklusion der Grund, warum die bayerischen Traditionen in Berlin inzwischen so erfolgreich sind. Thomas und Peter sind beide ihrer Heimat verbunden, schließen dabei allerdings niemanden aus. Vielleicht sind sie damit offener als die Wirte in München. Wer möchte, darf gerne mit ihnen LaBrassBanda hören oder Bayernspiele gucken. Wer nur in Ruhe sein Bier trinken möchte, ist aber ebenfalls willkommen.
 
Eben doch keine bayerische Exklave, vielmehr ein Miteinander. Thomas erzählt: „Als ich damals den Stammgästen erklärt habe, dass das Martinique eine Bayern-Fankneipe wird, haben viele gesagt, sie kämen nicht wieder. Stimmte aber natürlich nicht.“ Wohl, weil sie verstanden haben, dass sie bayerisches Bier trinken können und trotzdem Berliner bleiben dürfen.

Text: charlotte-haunhorst - Fotos: Juliane Eirich

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