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In den Dünen

Text: kurzgeschnitten
“Baust du mir ein Haus?” frage ich.
Sand, der durch meine Finger rinnt, so als wären sie eine Uhr, die Zeit nicht aufzuhalten, der Moment nicht festzuhalten, in den digitalen Spiegelreflex einer Kamera gebannt und für eine gemeinsame Ewigkeit vergessen.

Der Tag am Strand scheint endlos entfernt. In meinen Gedanken dreht die Frage danach, was Endlosigkeit bedeutet, einen Kreis, beißt sich selbst immer wieder in das eigene Satzende.
Hinter den Dünen ist es so still, dass ein leises Kopfschütteln die Kraft eines Vulkanausbruchs hat, plötzlich eine schreiend laute Antwort ist, Ohren sich verschließen wollen, der Kopf in den Sand eintauchen will, bis er sich erinnert, er ist kein Vogel Strauß, sich hocherhoben aufrichtet, die einzelnen Tränen zu ignorieren versucht, die sich in den Vordergrund drängen, geltungsbedürftig brüllen sie, heiß über das Gesicht hinab laufend: “Schau mich an!

Das feingliedrige Uhrwerk steht still, hinter den Dünen ist die Luft zerrissen, malen Beine ein verzweifeltes Muster in den Sand.
Vor ein paar Minuten noch, nur einige Meter entfernt saßen wir glücklich auf einer Picknickdecke, einer Isolierschicht zwischen dem herbstkalten Boden und uns.
Um unsere Schultern lag eine Jacke, denn wir brauchten nicht mehr, als die eine, so dicht waren wir aneinander gerückt, nicht nur am Strand, im Leben und nur für einen Moment.

Die verunglückten Türme einer sandburg lächelten uns zu, aufmunternd wollten sie scheinen, so als gäbe es nichts zu sagen und nur das eine zu fragen, als hätte die Welt einen Herzschlag ausgesetzt, würde alles gut bleiben, was den Anschein hatte gut zu sein, wäre das Vertrauen gerechtfertigt und der endlose Zweifel eine Erinnerung aus einer anderen Zeit, als der Sand noch durch gläserne Gefäße ran, nicht durch die eigenen Finger.

Der Blitz löst den Spiegelreflex ab, viel zu schnell, fällt das Leben auf der Picknickdecke in eine andere Dimension, so unbegreiflich, nicht vorstellbar, außerhalb jeden Gedankens und schierer Möglichkeit.
Der eben noch offen stehende Weg endet plötzlich, fast unerwartet und nicht weniger überraschend vor einer Betonmauer, hochgeschossen vor den Dünen versperrt sie die sicht auf alles, was einmal den Anschein hatte gut zu sein, eingefangene Blicke auf kühle Konstruktionen, von liebloser Statik.
Die eine Jacke glitt von einem Paar Schultern, als wäre das alles, was ihr zu tun übrig geblieben war, Beine malten ein verzweifeltes Muster in den Sand, wollten dem Sturm hinter den Dünen so unbedingt entkommen, steuerten auf die Sandburg zu, die verunglückten Türme gaben das lächeln auf, nahmen ihr Schicksal hin, wurden zu einzelnen Körnern, als hätten sie nie existiert, Illusion in einer von angepassten gegebenheiten bestimmten Welt, achtlos einem herbstkalten Boden gleichgemacht.

Schnelle, schmerzhafte Sekunden lang starren wir auf die Betonwand, die lieblose Statik, stehen uns gegenüber, getrennt von einer einzigen Frage, ein paar kleinen Worten, der Verführung eines Moments geschuldet, endliches Glockengeläut in unseren Ohren.
Und dann, als hätte es keinen Sturm gegeben, wäre die Stille hinter den Dünen nie zerrüttet worden, als lächelten die verunglückten Türme der Sandburg uns noch immer zu, hat die Endlosigkeit sich selbst überholt, zerfällt die lieblose Statik, wird die Betonmauer zu staub, löst sich die Welt in Grautönen auf, beginnen Erinnerungen sich selbst in Kisten und Schubladen zu verpacken, tragen sich eigenständig, ohne viel Aufhebens, traurig gebückt, in eine dunkle Speicherecke, sagst du: “Nein."

Ich geselle mich zu meinen Erinnerungen, falte die Hände über angezogenen Knien in einer dunklen Speicherecke, dunkle Ringe unter trockenen Augen starren einen Holzbalken an. Unter den Sohlen der alten Turnschuhe kleben feine Sandkörner, lassen sich nicht abschütteln, weil wir zu oft an Stränden gesessen haben auf einer Picknickdecke. Der Holzbalken beginnt mit den fahlen Schatten aus Licht und Staub zu tanzen; wogende Bewegungen werden zu einem unbestimmt rhythmischen Auf und Nieder, das Holz knarrt unter der brennenden Hitze.
Im Profil der Turnschuhe flüstern sich die Sandkörner kaum hörbare Worte zu. Der Holzbalken kehrt dem Tagtraum störrisch den Rücken, stumm liegt das Halbdunkel ausgebreitet im Raum, als warte es hoffnungslos darauf berührt zu werden.

Langsam zwingen mich meine Beine, meine übrig gebliebenes "Ich" hochzustemmen, stützen sich eingeschlafene Hände neben rostigen Nägeln auf, widerstehen knapp dem Wunsch, die Fingernägel in das alte Holz zu vergraben.
Mühsam folge ich meinen Schritten hinab in den zweiten Stock, hinter der Tür sitzt du an einem Tisch, gekauft während eines Bummels über einen Flohmarkt. Du liebst Flohmärkte, zwangst mich, dich zu begleiten und dennoch lachten wir unbändig, fühlten uns wohl, für den einen Moment, als sei die Betonmauer aus dem vergangenen Herbst nur ein verirrter Augenblick, der nichts, sicher nicht alles bedeutete.
Hinter dir und vor dem Fenster hat sich der Winter eine Schneise geschlagen, die Kälte kriecht durch die unzureichenden Dichtungen oder aus unseren Poren; der Unterschied ist kaum noch zu erkennen, von keiner Bedeutung. Dein Gesicht ist von liebloser Statik.

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