Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Krank vor Überfluss

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Ein 16-Jähriger aus wohlhabendem Elternhaus feiert eine Party mit Freunden, klaut betrunken das Auto seines Vaters und überfährt sechs Menschen. Vier von ihnen sterben. Obwohl er beim anschließenden Prozess keine Reue zeigt, verurteilt ihn der Richter nicht zum Knast, sondern zu zehn Jahren in einer Rehabilitationsklinik – auf Kosten seiner Eltern. Die Begründung: Er habe sein Handeln nicht richtig einschätzen können, er habe ja "Affluenza", eine psychologische Störung, die vor allem verwahrloste Kinder aus reichem Elternhaus haben.

Dieser Fall hat sich im Winter 2013 so tatsächlich zugetragen. Der 16-Jährige hieß Ethan Couch und ist seitdem ein Synonym für reiche junge Menschen, deren egoistisches Handeln mit einer Krankheit entschuldigt wird. Aber gibt es Affluenza nun wirklich?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Affluenza, was heißt das eigentlich?

Der Begriff Affluenza setzt sich zusammen aus "affluence", Englisch für Wohlstand, und "Influenza", zu Deutsch Grippe. Der Theorie nach verspüren Affluenzapatienten den Drang, immer mit dem Nachbarn mithalten zu müssen und eine Sucht nach wirtschaftlichem Reichtum. Dass sie dabei anderen Menschen schaden können, reflektieren sie kaum – sie sind ja krank.

Der Begriff steht in enger Verbindung zum Konsumismus und wird auch "Zeitkrankheit Konsum" genannt. Die Geschichten der fünf Upper-Class-Jugendlichen, die aus Spaß von 2008 bis 2009 in diverse Promi-Villen in Hollywood einbrachen, die schließlich als "The Bling Ring" verfilmt wurde, ist ein Beispiel für mögliche Affluenza-Erkrankungen.

Auch das 2014 erschienene Kinodrama "Affluenza" thematisiert  das Phänomen am Beispiel der Wohlstandsgegend Long Island. Bereits Ende der 90er wurde der krankhafte Konsum aufgegriffen: Damals zeigte der amerikanische Sender PBS John le Graafs TV-Show "Affluenza", in der die Macher durch Amerika reisen und dem Publikum  Menschen zeigen, die weniger arbeiten und einkaufen, aber dafür mehr Zeit mit  der Familie und Freunden verbringen oder sich ehrenamtlich engagieren.  Leben mit weniger Konsum, die trotzdem lebenswert sind. Mit dem Fall Ethan Couch und seiner aus der Krankheit resultierenden milderen Bestrafung bekam die Diskussion nun wieder neues Futter. 

Vier Tote, zwei Verletzte, null Schuldgefühle

Ist Affluenza also ein Freifahrtschein für Straftaten? Der Begriff suggeriert Ansteckung und Gefahr. Tatsächlich hat das Phänomen aber auch soziologische Wurzeln in der amerikanischen Gesellschaft: ein verschwenderischer Lebensstil, der auf Abgrenzung und Statusmerkmale bedacht ist, mehrere Autos, größere Häuser, dazu Fernsehserien wie O.C. California, bei denen es um angeblich erstrebenswerte Oberflächen geht. Kombiniert mit mangelnder Zuwendung für das eigene Kind, Abgabe von Verantwortung und einer schlechten Erziehung führt das zu dem, was in Deutschland als Wohlstandsverwahlosung bekannt ist. Im Gegensatz zu Affluenza beschreibt dies aber keine psychologische Stärung, die vor Gericht anerkannt würde.

 

Natürlich wurde auch das Urteil zu Ethan Couch nicht widerspruchslos aufgenommen: Die Psychologin Suniya Luthar sagte, die Forschung zeige, dass  ein Doppel-Standard zwischen Armen und Reichen gesetzt werde: "Wie groß  wäre die Wahrscheinlichkeit, dass der Richter das Verhalten eines  Afro-Amerikaners, der in einer brutalen Umgebung aufwuchs und dessen  Mutter drogenabhängig war, so wie bei Couch beurteilen würde, nur weil  er so sozialisiert wurde?" Ein anderer Psychologe pflichtete ihr bei und  argumentierte, dass Couch – indem er eben nicht in einer luxuriöse  Rehabilitationsanstalt gekommen wäre – hätte lernen müssen, dass Geld  und Privilegien nicht die negativen Konsequenzen von kriminellem Handeln  verhindern können.

 

Und was lernen wir daraus?

Ob Affluenza wirklich existiert, ist weiterhin umstritten. Wer nach der traurigen Geschichte von Ethan Couch nun allerdings den Drang verspürt shoppen zu gehen und Papas SUV zu klauen, der sollte es mit diesem Test versuchen. Damit kann man sich nämlich – wie bei vielen psychischen Erkrankungen – kurzerhand eine Selbstdiagnose auf Affluenza ausstellen. Ob diese später vom Gericht akzeptiert wird, ist allerdings fraglich.

  • teilen
  • schließen