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Platten-Fan

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Während die Mieten in den innenstadtnahen Altbauvierteln deutscher Großstädte fast ständig weiter klettern, bleiben die meisten Plattenbausiedlungen vom Boom scheinbar unberührt. Die Nachkriegsbauten gelten als kalt, funktional – schlicht unsexy. Das Ihme-Zentrum in Hannover ist so eine Bausünde. Wie eine Burg aus grauem Beton liegt der 1972 gebaute Komplex am Rand der Innenstadt, umfasst Wohnhochhäuser und Ladenflächen. Letztere stehen allerdings seit vielen Jahren leer. Ein ehemaliger Investor ging bei den Umbauarbeiten pleite. Die als offene Baustelle daliegende Shopping-Ebene steht am heutigen Mittwoch zur Zwangsversteigerung. Der Journalist und Blogger Constantin Alexander hat sich vergangenen Sommer bewusst für einen Umzug ins Ihme-Zentrum entschieden, seine Erfahrungen hat er in seinem Blog dokumentiert.

jetzt.de: Kaum jemand würde freiwillig in einen Plattenbau ziehen. Warum hast du dich dafür entschieden?
Constantin Alexander: Das Ihme-Zentrum hat einen wahnsinnig schlechten Ruf in Hannover. Die Leute sagen, es sei kaputt, eine Bausünde und seine Zeit sei vorbei. Mir war das zu einfach. Ich hatte im Frühling vor einem Jahr das Barbican Centre in London gesehen. Das ist auch so ein riesiger Betonbau, der aus der gleichen Epoche wie das Ihme-Zentrum stammt und ihm deshalb sogar recht ähnlich sieht. Das Barbican wurde aber in den 1980er-Jahren zum größten Kulturzentren Großbritanniens gemacht. Da hab ich gemerkt, man kann einen solchen Betonkomplex durchaus in einen lebenswerten Teil der Stadt verwandeln.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Ihme-Zentrum in Hannover soll zwangsversteigert werden.

Wolltest du also ausprobieren, ob man einen anderen Blick auf Plattenbauten entwickelt, wenn man darin wohnt?
Ja. Außerdem wollte ich schauen, wie ich mich verändere, wenn ich an einem Ort bin, der dem Ruf nach ein Hort von Kriminalität, Gewalt und Drogen ist.

Welche Vorurteile hattest du über den Block als du eingezogen bist?
Ich dachte, alles steht leer und ich muss Angst haben. Ich glaubte, die Läden hier seien aus wirtschaftlichen Gründen pleite gegangen, das Zentrum würde sich nicht lohnen. Seit ich hier wohne, habe ich gemerkt, dass die Wahrheit deutlich vielschichtiger ist. Hier ist es nicht leer, das Scheitern des Einkaufszentrums hatte andere Gründe und es ist kein sozialer Brennpunkt. Einige Hannoveraner fordern, das Ihme-Zentrum solle abgerissen werden. Ich denke jetzt, das wäre kompletter Unsinn. Das Zentrum hat nur ein Image-Problem.

Wie ist die Platte denn von innen?
Im Eingangsbereich meines Hauses ist eine Stimmung wie kurz nach dem Weltuntergang. Leitungen hängen offen aus der Decke, überall bröckelt Beton, als ob man in einer verlassenen Stadt ist. Steigt man dann aber in den Fahrstuhl und fährt nach oben, kommt man dort in einer anderen Welt an. Die Wohnungen sind super geschnitten, ausgesprochen komfortabel und fast alle sind belegt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Constantin Alexander zog freiwillig in den Plattenbau. Und es gefiel ihm dort.

Teilweise haben die Wohntürme mehr als 22 Stockwerke. Kennt man da noch seine Nachbarn?
Auf jeden Fall. Das Zentrum unterteilt sich in die verschiedenen Eingänge. Als ich eingezogen bin, hab ich in meinem Eingang einen Zettel aufgehängt, um meinen Nachbarn zu sagen, wann ich den Fahrstuhl für den Transport der Möbel brauche. Sofort wussten alle: Ich bin der Neue. Daraufhin haben mich ständig Leute angesprochen. Einige luden mich zum Kaffee oder zum Bier ein, von anderen konnte ich mir mal etwas ausleihen. Es gibt eine sehr offene Stimmung hier.

Dem Vorurteil nach wohnen in Deutschland nur die Ärmsten im Plattenbau. Wie ist das im Ihme-Zentrum?
Das hängt von den Eingängen ab. In den meisten wohnen normale, bürgerliche Hannoveraner. Es gibt hier viele Eigentumswohnungen. Die sind begehrt, weil man besonders in den oberen Stockwerken einen tollen Ausblick hat. Viele Bewohner leben dort seit Fertigstellung des Baus Ende der 1960er. In den obersten Etagen erstrecken sich Loftwohnungen manchmal sogar über zwei Geschosse. Die sind entsprechend teuer. Aber es gibt auch ein Hochhaus, wo es schon soziale Probleme gibt. Das Ihme-Zentrum ist im Prinzip wie ein komprimiertes Stadtviertel. Hier wohnen alle, von Ärzten, über Lehrer und Verkäufer bis hin zu den Sozialleistungsempfängern. Es gibt sogar ein Studentenwohnheim.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Das Zentrum hat nur ein Image-Problem", sagt Constantin Alexander über das Ihme-Zentrum.

In deinem Blog besprichst du eine Menge Visionen für das Zentrum: Von Urban Gardening über einen Techno-Club bis hin zum großen Kulturzentrum. Warum wurde bislang kaum eine davon verwirklicht?
Das liegt zum Teil an den sehr komplizierten Besitzverhältnissen. Der frühere Besitzer des Ladenareals, ein großer Fonds, ist mitten während der Umbauarbeiten durch die Finanzkrise pleite gegangen. Seitdem stand das Zentrum unter Zwangsverwaltung durch die Landesbank Berlin. Deswegen sieht es in den unteren Stockwerken jetzt so apokalyptisch aus. Diese Gewerbeflächen, die nun am Mittwoch versteigert werden, sind zudem vom Wohnbereich entkoppelt. Die Wohnungen gehören einer Menge anderer, einzelner Eigentümer. Um das Zentrum zu entwickeln, müsste man aber beide Seiten zusammenbringen. Es fehlt allerdings auch der Mut, unbequeme Ansätze zu verfolgen.

In beinahe allen Städten mangelt es an bezahlbaren Räumen für Startups. Warum sind die nicht eingezogen?
Man bräuchte rund 100 Millionen Euro, um in den leer stehenden Läden die Elektrik, Leitungen, Heizungen und ähnliches zu sanieren. Wenn aber ein Investor kommt und Geld in die Erneuerung steckt, dann wird eine entsprechend hohe Rendite erwartet. Natürlich wäre es schön, wenn der leerstehende Bereich für eine kreative Nutzung geöffnet würde. Aber darauf müssten sich die Stadt oder die Wirtschaft erst einmal einlassen und hinnehmen, dass sie damit nur wenig Geld verdienen könnten.

Wenn du das nächste Mal umziehst, würdest du in einen Alt- oder einen Plattenbau gehen?
Kommt auf das Stockwerk an. Ich bin inzwischen ein Fan der Platte. Wenn die Lage top und der Ausblick gut ist, würde ich sofort wieder ins Hochhaus ziehen.

Text: clemens-haug - Bilder: Ole Witt

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