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Ich mach's wie Mama

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Die Gratis-Tüten

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der Supermarkt ist menschenleer. Ich schaue nach links und rechts, um sicherzugehen, dass wirklich keiner guckt. Dann wickele ich blitzschnell ein paar Dutzend Plastiktüten von der Rolle, die neben der Obstwaage hängt, und stecke sie in meine Tasche. Sie werden sich gut als Mülltüten für den kleinen Badezimmereimer machen, denke ich, oder um Schuhe einzutüten, bevor man sie in die Sporttasche steckt. Aber als mein Freund zuhause die Lebensmittel auspackt und die vielen Plastiktüten mit halb fragendem, halb vorwurfsvollem Gesicht hochhält, schäme ich mich plötzlich so, als hätte er einen dutzend benutzter Kondome in der Tasche gefunden.

Ein ähnliches Gesicht wie er, machte ich als Kind, wenn ich stibitzte Plastiktüten in der Tasche meiner Mutter fand.  Werde ich langsam so wie sie? Werde ich bald Soya-Soßen-Päckchen aus chinesischen Restaurants klauen? Zwei Dutzend Probier-Würstchenspieße von der Fleischtheke abstauben, um sie triumphierend mit meinen  verschämten Kindern zu teilen? 

Dabei ist meine Mutter alles andere als geizig: Sie liebt Taxifahren und ich kenne niemanden, der großzügigere Geburtstagsgeschenke bekommt als ich und meiner Geschwister. Aber sie ist in einem kommunistischem Land aufgewachsen, wo es folgenden Spruch gab: Wer nicht vom Staat klaut, klaut von seiner Familie. Schreibzeug und Klopapier aus dem Büro mitzunehmen war Ehrensache. 

Den Staat, den man beklauen sollte, gibt es nicht mehr. Meine Mutter ist bald 20 Jahre in Deutschland und ist natürlich keine Diebin. Aber kostenlose Dinge mitgehen zu lassen, ist für sie  eine Art Ersatz dafür. Als Kind war mir das unglaublich peinlich. Vor allen Dingen, wenn meine Schulbrote in Damen-Hygienebeutel eingepackt wurden, die in öffentlichen Toiletten ausliegen. Auch jetzt schäme ich mich, wenn sie im Restaurant die abgepackten Zahnstocher einsteckt oder Pröbchen in Drogerien. Oder eben Supermarkttüten. 

Wo sie aber Recht hat: Die sind echt unglaublich praktisch. Und passen außerdem perfekt in den Badezimmereimer. Als ich beim nächsten Mal Mülltüten in ähnlicher Größe kaufen wollte, kostete eine Rolle  3,99 Euro. Ich sah nicht ein, so viel zu bezahlen. Wo es sie doch umsonst in jedem Supermarkt gibt!

Wlada Kolosowa


Der Ampel-Rekord

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Als die Ampel auf Gelb wechselte, war ich 30 Meter von der Kreuzung entfernt. Ich wusste, ich würde es nicht schaffen, blieb aber auf dem Gas. Aus rechter Richtung fuhren die Autos an und hupten, als ich vorbeischoss. Das Blitzerfoto zeigte mich in einem Zwischenzustand – der Mund diametral grinsend, die Augen panisch. Ich bremste auf der Busspur. Mein erster Gedanke war, dass sich das mit dem Führerschein wohl erstmal erledigt habe, ich fand das ärgerlich. Mein zweiter Gedanke war, dass es mit dem Gelbampelrekord auch nichts werden würde, ich fand das mindestens genauso ärgerlich. Ich dachte an meinen Vater und ich dachte, tja, das habe ich nun davon. Wie der Vater, so sein Sohn.

Aber ich muss weiter ausholen.

Ich zeige dir nur, wie du es nicht machen sollst. Mit dieser Doktrin bin ich aufgewachsen, im zweiwöchigen Takt. So wollte es die Regelung, auf die sich meine getrennten Eltern geeinigt hatten: Ich wuchs bei meiner Mutter auf (der fantastischsten aller Mütter, das darf ich an dieser Stelle ruhig mal sagen) und verbrachte jedes zweite Wochenende bei Papa. Er holte mich mit seinem schwarzen BMW ab und damit ging es auch schon los. Ich zeige dir nur, wie du es nicht machen sollst. Er chauffierte uns aus der Mitte Hamburgs in den Norden und wir spielten das Ampelspiel. Wir zählten die gelben Ampel, die wir überfuhren. Das heißt: Ich zählte, er fuhr. Lachend mahnte er mich, später sicher und vorausschauend zu fahren, das sei ja kein Spaß. Er wolle mir nur zeigen, wie – genau. Elf gelbe Ampeln waren ewiger Rekord.

Mein Vater ist kein Hallodri, mein Vater ist kein Heiliger. Er ist ein, ich glaube, man nennt das heute so: fun dad. Mandatiert für alles, was unterhaltsam zu werden versprach, dabei aber nicht unbedingt pädagogisch wertvoll war, jedenfalls nicht den Erziehungsratgebern zufolge, die Vorsicht predigen und Tugend. Mit Vater war jedes Wochenende ein Ausflug und jeder Ausflug ein Abenteuer. Er sprang von Klippen und rief, sowas solle ich bitte niemals machen. Er ging zu hart feiern, riet mir aber zu Mäßigung. Heute bekomme ich häufig attestiert, ich sei ja genau wie mein Vater. Sein Konzept ist irgendwie nicht aufgegangen.

Er wollte mir nur zeigen, wie ich es nicht machen sollte. Aber ich wollte diese gelbe Ampel packen. Mein Vater hat mir dann den Idiotentest und die Theoriestunden bezahlt, damit ich den Führerschein zurückbekam. Ich fand das sehr nett von ihm. Wir sind jetzt quitt, würde ich sagen.

Moritz Herrmann


Die Schrift

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Eigentlich hätte mir meine Transformation schon viel früher auffallen müssen. Zum Beispiel als ich anfing, sonntags mehr zu kochen, um es mir im Laufe der Arbeitswoche mit ins Büro zu nehmen. Oder als ich zum Ikea fuhr, um Plastikdosen für mein Mittagessen zu kaufen. Oder als ich plötzlich mehr Dosengrößen im Haus hatte als Schnapsflaschen.

Aber nein, ich erwachte erst, als ich wieder einmal vor dem Gefrierschrank in meiner Küche kniete und ein durchsichtiges Gefäß mit ungewissem, aber gefrorenem Inhalt begutachtete. War das Asia-Gemüse? Bolognese-Soße? Keine Ahnung, irgendwas Braun-grünes mit vielen Eiskristallen eben. Ich rubbelte mehrfach in meiner Ratlosigkeit mit dem Zeigefinger auf einer Stelle, um sie zum Schmelzen zu bringen. und leckte ihn dann ab. Ah, ganz etwas anderes: Schmorgemüse. Ich sollte das Zeug mal beschriften, dann wäre ich nicht immer so aufgeschmissen, dachte ich mir. In Ermangelung von Etiketten-Aufklebern Post-it  und Stift geholt, „Schmorgemüse“ drauf geschrieben. Es war wie ein Déjà-vu: Auf dem grünem Plastikdeckel strahlte mir die Schrift meiner Mutter entgegen. Mir war nie aufgefallen, dass wir exakt die gleiche haben. Diese Kringel über dem Ü, die kleinen Hügelchen auf den Ms, das geschwungene G.

Ich schauderte. Für einen kurzen Moment war meine Mutter mit mir in der Küche. Meine Mutter ist seit drei Jahren tot. Die Kombination „Schrift auf Tupperdose“ holte sie für eine halbe Hirnumdrehung zurück, bevor mein Kopf mich dran erinnerte, dass das unmöglich ist. Ich hätte den Moment so gern festgehalten, eine Erinnerung ist unmöglich – zu dominant ist die Ratio. Wenn sie einsetzt, tut das weh. Wie ein Splitter des Gefühls als ich sie verloren habe. Ich beschloss, das mit der Beschriftung zu lassen. Ich ertrage solche Flashbacks nicht. Lieber rate ich wieder Doseninhalt.

Michèle Loetzner


Die Nasendusche

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ich mag meine Mutter sehr. Und doch bin ich zeitlebens von der Angst geplagt gewesen, eines Tages so zu werden wie sie. Es ist nicht ganz abwegig: Abgesehen davon, dass wir uns offenbar sehr ähnlich sehen, tun wir auch Ähnliches. Sie ist Neurologin, Psychiaterin und Therapeutin, ich habe Psychologie studiert. Obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte, ist es passiert.

In Heidelbergs feuchten Wintern war sie früher teilweise monatelang von chronischen Nasennebenhöhlenentzündungen geplagt. Was sich bei ihr zu einer Art Schnupfen-Phobie entwickelte, wurde postwendend auf uns Kinder übertragen. Ich bekam ein Jahres-Attest, dass ich wegen chronischer Nebenhöhlenentzündung nicht mehr am Schwimmunterricht teilnehmen musste. Dazu experimentierte sie herum, wie sich das Übel auf alternativem Weg aufhalten lassen könnte und konstruierte eine kleine Apparatur, die „Nasenspülung“. Fortan wurden wir gezwungen, uns täglich ihre hausgemachte Emser-Salz-Lösung mit einer kleinen Plastikspritze in die Nase zu ziehen, was regelmäßig ozeanische Ertrinkungsgefühle auslöste.

Als ich dann irgendwann von zuhause auszog, war mir klar: Nie wieder Nasenspülung! Fast ein Jahrzehnt habe ich das auch durchgezogen. Wenn sie mich fragte: „Machst du auch Nasenspülung?“, habe ich immer gesagt: Ja ja.

Letztens war ich sehr erkältet. Ich habe einige Zeit in der Apotheke verbracht. Heraus kam ich mit einer moderneren Apparatur, die sich Emser Nasendusche Nasanita nennt. Erst habe ich sie noch in meinem Zimmer versteckt und nur heimlich angewendet. Mein Mitbewohner meinte, er kenne das, es sei „wie Waterboarding“.

Die Wahrheit ist: Ich bin begeistert. Ich kann wieder durchatmen. Und muss wohl akzeptieren: Obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte, ist es jetzt einfach passiert.

Lucia Heller


Der Teppich-Tick

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Als ich noch zu Hause wohnte, habe ich mich wie jeder Pubertierende regelmäßig mit meiner Mutter gestritten. Allerdings in den meisten Fällen über Teppiche, die nicht da lagen, wo sie liegen sollten. Unter dem Esstisch, vor der Couch, im Flur – es gab kaum etwas, was meine Mutter so rasend machen konnte wie verrutschte Teppich. Ich konnte die Problematik natürlich überhaupt nicht nachvollziehen und sehe mich noch heute locker-lässig im Türrahmen lehnen und sagen: „Ey Mama, wir wohnen doch nicht in einer IKEA-Ausstellungswohnung!“ – was sie in den meisten Fällen nur noch wütender machte. Ich fand, so ein wenig Leben würde unserer Wohnung schon nicht schaden und dazu zählten für mich neben ungemachten Betten und benutzten Müslischalen eben auch verrutschte Teppiche.

Mit 19 zog ich aus und stellte schnell fest: Teppiche sind gar nicht so furchtbar spießig und können einen Raum richtig gemütlich machen. Ja, im Badezimmer sind sie sogar ein absolutes Must-Have. Wer hat schon Lust auf kalte Füße nach dem Duschen? Was ich leider eines Tages auch feststellen musste: Ich stand mit meinem damaligen Freund im Badezimmer und diskutierte mit ihm darüber, wie er es immer wieder schaffen konnte, die Teppiche dermaßen zu verrutschen.

Und hier bekam ich offiziell Angst. Genau die Eigenart meiner Mutter, die ich am wenigsten verstehen konnte, hatte ich eins-zu-eins übernommen. Dass gemachte Betten einfach schöner aussehen und Müslischalen mit der Zeit anfangen zu muffeln, konnte ich nachvollziehen. Aber die Teppiche – niemals!

Mittlerweile habe ich meinen Tick irgendwie akzeptiert. Wenn der Besuch den Vorleger im Badezimmer beim Hinausgehen verrutscht, richte ich ihn leise wieder hin und halte meine Klappe.

Anja Schauberger

Text: jetzt-redaktion - Illustrationen: Katharina Bitzl

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