Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Der Ausziehkummer

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Das Besondere an einer Mitbewohnerbeziehung sind die alltäglichen Intimitäten, die man mit niemandem sonst teilt: dass man sich nicht von dem Bärchen-Schlafanzug aus der Kindheit trennen kann, der einem nur noch bis zu den Knöcheln reicht. Wann man wie viel Zeit auf der Toilette verbringt. Was für eine Sauerei entsteht, wenn man am Ende einer langen Nacht irgendwas mit viel Knoblauch kocht. Wie man am Morgen nach dieser langen Nacht oder mit Fieber und fettigen Haaren aussieht.

Ein Mitbewohner wird schnell zur Gewohnheit. Er ist einfach da, immerzu und selbstverständlich. Deshalb gibt er einem genauso wie der alte Bärchen-Schlafanzug ein vertrautes Gefühl. Man teilt mit ihm nicht nur das Bad, den Küchentisch und die Milch. Sondern auch den Alltag in der WG, das Zuhause.

Das Zuhause wechselt man als junger Mensch allerdings häufig – und mit ihm den oder die Mitbewohner. Wenn man sich aus freien Stücken für den Auszug entscheidet, kann sich das wie Schlussmachen anfühlen. Eine WG ist schließlich auch eine Partnerschaft. Die Entscheidung, sie zu beenden, hat meistens nichts mit der Mitbewohnerbeziehung zu tun. Viel häufiger sehnt man sich nach etwas Neuem oder einen besseren Wohnlage, will mit dem Freund oder der Freundin zusammenziehen oder doch mal alleine wohnen. Dann fällt es schon schwer, die Nachricht vom Auszug überhaupt zu überbringen, am Küchentisch oder im Flur. Man befürchtet, den anderen zu verletzen oder kämpft mit einem latent schlechten Gewissen.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Getrennte WG, getrennte Wege.

Hat man das Trennungsgespräch hinter sich gebracht, sein Zimmer in Kisten gepackt und den WG-Schlüssel zurückgelassen, fangen die Schwierigkeiten erst richtig an. Das heimelige Schlafanzug-Gefühl geht verloren, an seine Stelle rückt wie nach dem Ende einer Liebesbeziehung ein ganz gemeiner Trennungsschmerz: der Ausziehkummer.

In der Anfangsphase des Ausziehkummers stellt man sich immer die eine Frage: Warum bin ich bloß gegangen? Dazu wird vermisst und schönerinnert, was das Zeug hält. So wie die Beziehung mit dem Ex mit Abstand betrachtet wieder leuchtet, war das gemeinsame WG-Leben rückblickend perfekt: das eine Mal lachend auf dem Boden sitzen, ohne zu wissen, warum. Die tiefgründigen Gespräche am Küchentisch – mit so viel Rotwein! Am nächsten Morgen zwei Brummschädel und die Erkenntnis, dass geteiltes Leid sogar schön sein kann. Nicht zuletzt das weltbeste Pilzrisotto des Mitbewohners. Das waren die besten Zeiten des Lebens – und die Idee auszuziehen total bescheuert.

An was man sich nicht erinnert, das sind die Haare im Abfluss und die leeren Milchtüten im Kühlschrank. Man verdrängt, wie hartnäckig der andere den Putzplan zu ignorieren wusste. Wie sich im Flur eine Armee von verknoteten Mülltüten sammelte, weil dieses Mal endlich der Mitbewohner zum Container gehen sollte. Vor allem aber vergisst man die Gewohnheitsfalle, der man nachsagt, sie könne sogar die Liebe einfangen. Auch in der WG hat sie ihren Dienst geleistet. Der Mitbewohner musste sich die Aufmerksamkeit ständig mit dem köchelnden Nudelwasser und dem Wäscheständer teilen. Für jemanden, der sowieso immer da ist, gibt man sich nicht so viel Mühe. Am Anfang des Ausziehkummers will man das jedoch nicht wahrhaben. Lieber trauert man.

Was man vorher erfolgreich verdrängen konnte, realisiert man spätestens beim ersten Wiedersehen. Das fühlt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit genauso komisch an wie das zufällige Treffen mit dem Ex auf der Straße. Plötzlich muss man sich überlegen: Was verbindet uns außer der gemeinsamen Vergangenheit? Was teilen wir, wenn nicht die Milch? Sind wir nun gute Freunde, Freunde, Bekannte oder einfach nur Ex-Mitbewohner? Und wie oft wollen wir uns in Zukunft sehen? Bei dieser Frage kann es sein, dass sich die ehemaligen Mitbewohner unterschiedliche Antworten wünschen. Genau wie nach dem Beenden einer Beziehung wird auch bei einer WG-Trennung vielleicht eine Person die gemeinsame Zeit viel stärker zurücksehnen als die andere. Ist man derjenige, der ständig anruft und ständig Absagen bekommt, tut der Ausziehkummer besonders weh.

Das Gute an all den Fragen ist, dass sich für sie Kompromisse finden lassen. Diese muss man natürlich zusammen suchen – bei einem Kaffee, Rotwein oder dem weltbesten Pilzrisotto des Ex-Mitbewohners an einem Küchentisch, an dem man nur als Gast sitzt. Gegenüber hockt dann ein Mensch, der plötzlich nicht mehr Gewohnheit ist. Jemand, für den man den Bärchen-Schlafanzug gegen etwas Schickeres tauscht. Man schenkt ihm die volle Aufmerksamkeit und kann jetzt Dinge erfahren, die man vorher nicht wusste oder wieder vergessen hat. Man kann Gemeinsamkeiten entdecken und das Eigene des Anderen schätzen lernen. Während man tratscht und staunt und lacht, fragt man sich plötzlich: Lohnt sich der Ausziehkummer?

Abgesehen davon bedeutet irgendwo auszuziehen immer auch irgendwo einzuziehen. Ob ein Neuanfang nun in der Gestalt einer eigenen Wohnung daherkommt, den nächsten Schritt in einer Beziehung bedeutet oder eine neue WG ist – man gewinnt etwas Neues dazu. Nach dem ersten Fremdeln lernt man das zu schätzen. Für den Ausziehkummer bleibt dann immer wenig Platz. Erst in dieser Phase kann man ohne Übertreibungen sagen, wie viel einem die Mitbewohnerbeziehung tatsächlich bedeutet hat. Wenn es viel war, wird sich die Freundschaft mit dem ehemaligen WG-Partner einspielen und zur neuen Gewohnheit werden. Spätestens dann hat man den Trennungsschmerz überwunden und weiß: Ausziehkummer lohnt sich nicht.

Text: daniela-gassmann - Foto: simonthon / photocase.de

  • teilen
  • schließen