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Auslandssemester - Am Rande der Kraft

Text: LottaMaleen

Ein Bericht über ein Jahr im Land der Schafe und Rotschöpfe - abseits von dem Motto Erasmus Studenten sind Orgasmus Studenten...

Abflug Hannover, Zwischenstopp Frankfurt, drei Stunden unterwegs, Sicherheitscheck und Passkontrolle überstanden, schon stehe ich vor dem Dublin Airport und versuche mich zu orientieren. Es regnet. Natürlich – es ist Irland. Der Regen ist keine große Überraschung. Überrascht bin ich allerdings über die Schilder. Denn außer der „normalen“ englischen Bezeichnung ist jedes Wort noch einmal in Gälisch aufgeführt. Dass diese Sprache noch immer einen derart hohen Stellenwert in der Republik Irland besitzt, hätte ich nicht gedacht. Laut heimischer Recherche ist die gesprochene Sprache in Irland Englisch. Und genau damit, mit meinem feinsten Schulenglisch (das kann ich!) frage ich nun den ersten Iren nach dem Weg zur Bushaltestelle. „Excuse me, could you tell me where the bus station is?“ Was mir der freundliche, zahnlose Herr antwortet, kann ich bis heute nicht genau sagen. Ich verstehe kein Wort. Ist das Gälisch? Oder einfach nur ein sehr starker Akzent? Vor diesem Akzent hatte man mich gewarnt. Aber dass ich wirklich gar nichts verstehen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Wird schon, denke ich mir und tapere erst mal mit meinen zwei Koffern in die Richtung, in die der Mann zeigt. Und tatsächlich finde ich den Bus, der mich nach Carlow bringen soll.
Das County Carlow (gälisch: Ceatherlach) liegt circa 80 km südlich von Dublin, hat 55.000 Einwohner und ist Teil der Provinz Leinster. Die Stadt Carlow hat 14.000 Einwohner, von denen die Hälfte Studierende an einem der drei Colleges sind. Eins davon ist das Institute of Technology Carlow, an dem ich nun ein Jahr studieren und mit dem erfolgreichen Bestehen der Abschlussprüfungen den Bachelor of Business in Marketing erlangen soll. Der Weg führt mich drei Stunden lang über schmale und teilweise sehr brüchige Straßen entlang grüner Wiesen, auf denen Kühe und Schafe grasen. Natürlich regnet es. Aber sonst bietet Irland eigentlich einen sehr netten Anblick. Die Häuser in den kleinen Orten sind bunt und irgendwie urig, und der Anblick der Schafe ist – beruhigend. Irland, so wie man sich das vorstellt! Carlow selbst bietet nicht überm..ig viel, ein erster Eindruck, der sich auch nach genauerem Hinsehen kaum revidiert. Oder eher noch korrigiert, denn wenn man am ersten Samstag eines Monats ankommt, dann ist „Potato Market“ und damit mehr los als sonst. Außer Kartoffeln kann man den kleinen, fröhlichen Rotschöpfen dann sogar noch ein oder zwei verschiedene Sorten Cheddar abkaufen.
In Carlow merkte man deutlich und drastisch, dass Irland das Geld an allen Ecken und Enden fehlt. Viele öffentliche Gebäude sehen nicht nur heruntergekommen aus, sie sind es auch, und es gibt kaum Hinweise, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Was hingegen überall zu laufen scheint, in jedem noch so kleinen Ort in Irland, das sind die Pubs. Hier herrscht zu jeder Tageszeit eine feucht-fröhliche Stimmung und nicht nur das Guinness fließt in rauen Mengen, auch Pints mit Cider, Murphey’s und Kilkenny werden reichlich getrunken. Angebot und Nachfrage regeln die Preise, so lernen wir es im Studium, das Angebot ist groß, die Nachfrage noch weitaus größer, und so erklärt sich auch der horrende Preis. Wer versucht, sich jeden Tag der irischen Freizeitbeschäftigung Nummer 1 hinzugeben, der sollte vor seinem Auslandssemester entsprechend sparen. Man fragt sich zwischendurch schon, wie die Iren das finanzieren. In Carlow kann man von den Pubs weiterziehen in einen der drei Nightclubs. Um zwei Uhr morgens ist allerdings Schicht im Schacht.
Was gut ist, denn schließlich müssen am nächsten Tag wieder alle zur Arbeit oder zum Studium. Die IT Carlow besteht aus drei Bereichen. Einem älteren Teil, in dem die Vorlesungen stattfinden, einem neueren mit Kantine und Bibliothek, und schließlich dem Sportbereich. In den Räumen des älteren Teils liegt meist roter, muffiger Teppichboden und die Tische und Bänke sind mit Herzen und ewigen Liebesschwüren bekritzelt. Die Luft ist grundsätzlich verbraucht, klamm und erinnert an den Geruch, der nach einer durchzechten Nacht im Schlafzimmer hängt. Da kommt es mir sehr gelegen, dass die Vorlesungen nach Plan nur 45 Minuten dauern und effektiv immer nur 30 Minuten stattfinden. Mit einem starken Kater ist das ja sonst auch viel zu anstrengend... Der zweite Teil der Uni ist neu und wirkt fast schon steril. Das Gebäude ist weiß, hat hohe Decken und eine große Glasfront. Die Mädchen- Toiletten sind rosa gestrichen (nicht bekritzelt) und es riecht nach einer Mischung aus Parfüm und Desinfektionsmittel. Das könnte daran liegen, dass es an jeder Ecke Spender mit desinfizierendem Gel gibt (eine Folge der grassierenden Schweinegrippe). Selbst die Kantine und die Cafeteria riechen nicht nach altem Frittierfett, paradoxerweise, denn Frittiertes gibt es zur Genüge:



„Would you like chips with your spaghetti?“



„No, thank you.“



„Fried Potatos?“



„No!“ (Wo ist der Unterschied?!)



„Fried garlic bread?“



„No, thanks. I‘m fine!“



„Really?“



Ich denke schon... Aber den meisten schmeckt es – und das sieht man auch. In den hautengen lila Kuschelanzügen, die die Mädchen gerne zur Uni tragen, sieht man jedes Röllchen, bzw. auch sehr ausgewachsene Rollen. Ihre freie Zeit verbringen die meisten Mädels lieber mit Chips in der „Library“ (viele Bücher gibt es eigentlich nicht, dafür aber PCs) als auf dem Sportcampus. Ein großes Rugby-Feld, mehrere kleinere Kunstrasenplätze und eine Sporthalle mit Gym gehören dazu und sind trotz des schlechten Wetters durch die verschieden Sportclubs gut besucht. Wenn schon Irland, dann die Nationalsportart, so habe ich mir gedacht. Und ein Jahr im Ladys-Rugby-Team der Uni trainiert. Fazit: Ich habe eine Menge gelernt: Zum Beispiel, dass sich Tussis in rosa Trikots und mit langen Fingernägeln verdammt gerne schmutzig machen und darum wohl nur auf den ersten Blick Tussis sind. Oder dass man ungeahnte Kräfte entwickelt, wenn man bei strömenden Regen auf dem Feld steht, schon das eine oder andere Mal im Matsch gelegen hat, Blut schmeckt und echt keine Lust mehr hat, von dem nächsten blondierten Biest umgehauen zu werden. Man rennt dann einfach um sein Leben. Und manchmal kommt man sogar an, wo man ankommen soll, um den eierförmigen Ball hinter der Linie abzulegen. Was ja der Sinn des Spiels ist. Wobei ich die Regeln bis heute noch nicht ganz verstanden habe. Lag das nun am Mundschutz und der darum undeutlichen Aussprache des Trainers? Oder hat der Trainer die Regeln selbst nicht ganz durchblickt?
Man weiß es nicht. Vielleicht war es auch einfach nur mein mangelndes Interesse.
Über genau das, über mangelndes Interesse kann man sich übrigens als Erasmus-Studentin in Irland nicht beklagen. Charakteristisch für die Freizeitgestaltung der Erasmus-Studierenden in Carlow sind die privaten Partys, obwohl der Alkohol im Supermarkt nur unwesentlich günstiger ist als im Pub. Und auf diesen privaten Partys geht es dann richtig zur Sache. Das Niveau verabschiedet sich spätestens nach dem zweiten oder dritten Pint vollständig. „Wie heißt du? Woher kommst du? Hast du einen Freund?“ Diese drei Fragen in dieser Reihenfolge und mit eindeutiger Intention gestellt, habe ich nie öfter als in Irland beantworten müssen. Die meisten Erasmus-Studierenden lassen nichts anbrennen. Es heißt also nicht umsonst „Erasmus-Studenten sind Orgasmus-Studenten“. Wer in dieser Richtung Ambitionen hat, der sollte vor seiner Abreise seine Beziehung besser auf Eis legen oder beenden, ansonsten droht das schreckliche Gefühl, dabei zu sein, aber nicht mittendrin, die Sprache zu verstehen, aber nicht wirklich mitzureden.
Das Studieren fällt relativ leicht in Irland. Das Niveau an der IT Carlow ist für deutsche Erasmus-Studenten nicht vergleichbar mit dem einer heimischen Hochschule. Lehrinhalte werden bis zum Erbrechen wiederholt und dabei nimmt man auch auf die schwächsten Lerner Rücksicht. Selbst wenn das bedeutet, dass man in einem Jahr so viel Stoff durchnimmt wie in Hannover in vier Vorlesungen. Aber so bleibt natürlich genug Zeit, das Land kennen zu lernen, links und rechts einen Blick zu riskieren. Und am Ende hat man dann trotzdem seinen Abschluss mit Auszeichnung in der Tasche. Das generell gute Abschneiden der Studierenden ausländischer Herkunft gibt natürlich Rätsel auf. Zumal auch die Erasmus-Studenten allesamt den alkoholischen Kaltgetränken nicht gerade abgeneigt sind. Ist es der Fleiß? Sind wir klüger als die Iren? Tatsächlich bemerkt man an den irischen Kommilitonen so etwas wie eine galoppierende Unlust zu lernen. Macht sich da schon eine gewisse Resignation angesichts der Euro-Krise und mangelnder Perspektiven in Irland bemerkbar? Oder sind die Iren einfach gastfreundlich und „beschenken“ die ausländischen Studierenden darum grundsätzlich mit guten Zensuren? Ein Rätsel…
Aber wen kümmern schon solche Fragen, wenn auf der anderen Seite das Zeitkonto prall gefüllt ist und das Wochenende nicht fürs Lernen geopfert werden muss? Mit dem Auto lässt sich die kleine grüne Insel hervorragend erkunden. Und Irland ist schön. Galway (gälisch: Gaillimh) ist beispielsweise eine wunderschöne Hafenstadt in der Provinz Connacht im Westen Irlands, mit ihren 75.000 Einwohnern deutlich größer und lebendiger als Carlow. Von Galway aus sollte man ein paar Kilometer an der Küste entlang Richtung Süden fahren und sich die Cliffs of Moher anschauen. Die teilweise über 200 Meter senkrecht aus dem Atlantik ragenden Steilklippen sind das Wahrzeichen der Westküste Irlands. Über acht Kilometer erstrecken sich die mit Moos bewachsenen Klippen, die schon oft als Kulisse für verschiedene Filme gedient haben (z.B. für Harry Potter und der Halbblutprinz) und sich hervorragend für typische Irland-Fotos eignen. Wer danach noch mehr Lust auf irische Landschaft hat, kann sich mit dem Ring of Kerry die volle Dröhnung geben: 179 Kilometer quer durch grüne Wiesen mit viele Schafen, vorbei an Seen und merkwürdigen Steinsgebilden und mitten durch typisch irische Orte. Mit ein paar Pints abends im Pub wird der Ausflug irish-like abgerundet. Wem dann die Landschaft zu viel wird, der sollte sich schleunigst nach Dublin (gälisch: Baile Átha Cliath) aufmachen. Dublin lohnt sich immer. Egal ob nur für einen Tag, um das Trinity College und die Saint Patricks Cathedral zu besichtigen, oder für ein paar Tage mehr. Dann geht’s zum Beispiel mit der Metro an die Küste, um frische Fish’n’Chips zu essen, oder abends in einen Pub im belebten Viertel Temple Bar, wo man bei irischer Live-Musik und Guinness schnell ins Gespräch mit Einheimischen kommt. Bei einem solchen Gespräch fragte mich ein Ire, warum ich denn kein Dirndl tragen würde, worauf ich ihm den Unterschied zwischen Nord- und Süddeutschland erklärte. Ja, die Klischees, meinte er. Auch die Iren hätten damit zu kämpfen. Nicht alle seien beispielsweise Alkoholiker, nur weil sie jeden Abend nach der Arbeit in den Pub gehen und sich volllaufen lassen…
Der Norden Irlands ist bekanntlich zweigeteilt: Nordirland gehört zum Vereinigten Königreich und man sollte dort auf jeden Fall Belfast (gälisch: Béal Feirste) besuchen. Die Stadt ist ideal für einen Städtetrip: Kultur (auf jeden Fall eine Black-Taxi-Tour machen und dem aus Belfast stammenden Fahrer lauschen, wenn der die geschichtsträchtigen Orte erklärt oder de Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken aus seiner Sicht schildert), viele gute Clubs und Bars sowie eine große Einkaufsstraße mit vielen, vielen Geschäften, mehr kann man sich nicht wünschen.
Nach einem Jahr in Irland hat man dann aber auch genug gesehen – und ist ganz froh, wieder nach Hause zu fliegen. Zumindest ging es mir so. Irland wird seinen Klischees mehr als gerecht, es hat definitiv Ecken und Kanten. So habe ich viel Neues und Schönes erlebt, aber durchaus auch weniger Inspirierendes.
Fazit: Irland ist auf jeden Fall eine Reise wert, aber ein Auslandssemester sollte man dort eher in einer größeren Stadt machen.
(Sommer 2012) 






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