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Bitte kein Mitleid

Text: dackelfutter
Sex. Es geht in diesem Artikel um Sex. Nicht einmal um zuviel Sex. In einer glücklichen Partnerschaft hätte ich vielleicht nicht einmal weniger Sex. Es geht mehr um die Zahl der Sexpartner.

Mein Intimleben war eher unauffällig. Normal, im Schnitt. Es lief gut, Beziehung, Affäre, Beziehung, Freundschaft. Und auch mal ein ONS. Traditionell, getanzt, getrunken, im Bett gelandet.

Ich war eher der Offline-Mensch. Natürlich kommunizierte ich per Mail, Chat. War angemeldet bei Facebook. Aber eher weniger Fotos. Manchmal logge ich mich auch zwei Wochen gar nicht ein. Es war nett, aber ich war nie der Crack.

Mein Smartphone nutzte ich primär für die traditionellen Handy-Funktionen. Bis meine Ex mir Whats App installierte. Praktisch, aber soviel praktischer als meine SMS-Flat doch auch wieder nicht. Sonst war ich mobil online nur wenn ich tatsächlich unterwegs war, Verspätungen der Bahn checken, ob ich jetzt doch noch zum Bahnhof rennen soll.

Und dann wagte ich es. Ich habe Tinder runtergeladen. Warum nicht? Ist ja nett, prinzipiell eine Singlebörse, nicht mehr am heimischen Computer, sondern praktisch immer auf dem Phone. Was macht Tinder denn, was andere nicht machen? Auf den ersten Blick nichts. Ich dachte, das wäre ähnlich wie sich anbaggern bei Facebook. Wo man am Ende dann mit einer netten, attraktiven Dame am Tisch sitzt, ihr schon den dritten Latte Macchiato spendiert und man nach drei Stunden nur erfahren hat, wie fies Tierärzte sind, die immer so hohe Rechnungen für die Behandlung ihrer Katze erstellen.

Ort X. Singles verfügbar in der Nähe. Ich sortiere von der Liste die ersten 20 aus, 10 sind dem Foto nach ziemlich attraktiv. Eine Stunde später muss ich schon aufpassen, dass ich bei zwei parallelen Gesprächen nicht die Partnerinnen verwechsle. Fehler eins. Tinder ist ein Paralleluniversum. Man tauscht nicht sofort die eigene Nummer aus, man kommuniziert auf dieser Plattform weiter.

Zwischen Aktivierung dieser App und dem Treffen vergingen nur 5 Stunden. 22 Jahre, blond, relativ groß, sportlich. Treffpunkt Cafe am Bahnhof. So waren meine früheren Dates. Der Bahnhof ist anonym genug. Ich ziehe aus dem Automaten noch 50 Euro. Natürlich ist man galant und zahlt. Würden aber Frauen doch lieber nur schwarzen Kaffee trinken, das käme billiger.

Romantiker bin ich nicht. Blumen kaufe ich auf keinen Fall. Wir werden reden. Wir treffen uns, ich bin nervös, zünde mir eine Zigarette an. Obwohl das heutzutage gleich einige Minuspunkte einbringen kann.

Sie kommt. Leger gekleidet, nicht aufgetakelt, 0815 Style, wie sie gerade aus ihrem Seminar kommt. 2 Minuten später. Sie macht mich auf meinen Fehler aufmerksam: Wir treffen uns aber doch nicht, um hier im Cafe zu plaudern? Zu mir nach Haus da könn´ma nicht, weil der Klempner grad was richt! Nein, so hat sie es nicht gesagt. Sie habe einen nervigen Mitbewohner, ob wir zu mir nach Hause können.

Mutti. Meine Mutti hätte mich gewarnt. Könnte eine Trickdiebin sein. Die sich so schnell Zugang verschaffen will in meine Wohnung. Aber da gibt es nichts zu klauen. Wegen einem 3 Jahre alten Notebook mit Windows XP machen solche Banden sich sicher keinen Finger krumm.

Der Tag ist noch jung, es ist Sommer. Die Dämmerung bricht erst herein. Nach drei Kondomen verabschiedet sie sich schon. Kein Nummerntausch. Kein Kaffee zum Abschied. Weg. Sie sollte sich erst zwei Monate später noch einmal melden, um die Nummer zu wiederholen. Wo sie dann mir sagt, dass sie an mich gedacht habe, weil ihr letzter Lover eine absolute Null war.

Drei Tage später lieg ich im Bett mit einer, welche die Boulevard-Presse wohl als Tattoo-Luder bezeichnen würde. Ich gestehe ihr, dass ich bei diesem Tinderzeugs noch relativ unerfahren ist. Sie findet es praktisch. Spricht über ihre Erfahrungen mit Männern. Es waren in ihrem Leben schon mehr als 50. Das müsse man offen angehen.

Sechs Monate später. Ich habe auf diese Weise schon 15 Frauen kennengelernt. Da steht sie. Ende 20, grell rote Haare. Ich frage sie, ob sie zu mir kommen möge. Nein. Wir trinken erst einmal was zusammen. Sie ist Neuling. Ich bin ihr erstes Date. Sie fragt mich, ob ich damit gerechnet habe, dass es auf Anhieb klappt? Ja, so läuft es doch. Sie entschuldigt sich schon fast. Es wäre nicht ihr Ding. Wir führen ein Gespräch.

Drei Stunden später verabschieden wir uns. Sie erzählte viel, über ihr Leben, ihre Forschungsinhalte, ihren Beruf. Mit einer zärtlichen Umarmung verabschiedeten wir uns.

Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. Dieses Gespräch. Ich fühlte mich befriedigter als durch den Sex mit Nummer 12, 13 und 14 zusammen. Ein Mensch. Es war so menschlich. Ihre Augen, ihre Bewegungen.

War ich verliebt?

Ich lenkte mich ab.

Nummer 16-20. Es war Routine. Geil, schön. Aber routiniert.
Langsam bekam ich aber die Nebenwirkungen zu spüren.
Eine beschimpfte mich mit Worten. Worte, die ich in meinem aktiven Wortschatz nie hatte. Eine Infektion hat sie sich zugezogen, Chlamydien. Ich sei doch der Schuldige, ich habe ihr Leben verpfutscht. Kann nicht sein. Eins garantiere ich. Immer nur mit Kondom.
Eine Nummer, die nicht einmal so prickelnd war, meldet sich wieder.
Sie ist schwanger. Nur ich käme in Frage. Ich soll ihr 750 Euro geben. Für die Abtreibung. Nachdem ich aber verlangt hatte, dass wir mal darüber reden müssten und sie mir doch bitte ein Ultraschallbild zeigen soll, meldete sie sich nicht mehr. Fallen andere Männer drauf rein?

Es ist wie mit dem Nikotin. Noch diese Packung zu Ende rauchen, dann höre ich damit auf. Und schon stehe ich wieder am nächsten Automaten. Ich nehme die Nächste jetzt auch als Automat wahr. Mir fehlt etwas. Ich spüre immer mehr, dass mir etwas fehlt.

Ich kann nicht schlafen. Ich denke an sie. An die roten Haaren. Ihre Bewegungen. Ich melde mich bei ihr. Nach vier Monaten. Ich will keinen Sex. Ich will reden. Mit Menschen. Nicht mit Maschinen.

Wir treffen uns erst nach drei Wochen. Einen Espresso. Dann will sie zu mir.
Hilfe! Ich will nicht! Aber sie ist auf einmal so anders.
Es gelingt mir, sie zu unterbrechen. Wir kommen ins Gespräch.
Ja, diese App. So praktisch. Sie erzählt mir von geplatzten Kondomen, kleinen Schwänzen, ungeduschten Männern, Eheringen auf dem Nachttisch. Sie habe es in den letzten Monaten intensiv genutzt. Alles ist anders. Aber, als ich ihr noch ein Gläschen Grappa anbieten will, können wir jetzt nicht....

Ich versuche es ihr rüberzubringen. Ich begehre sie. Ich will keinen Sex. Jetzt nicht. Ich will sie, ich will...

Ziemlich fluchtartig verlässt sie meine Wohnung. Verabschiedet sich freundlich, aber enttäuscht.

Einen Monat später bekomme ich eine Mail. An meine Dienstadresse. Wie unvorsichtig. Sie konnte mich aber nicht anders kontaktieren. Sie bedankt sich. Sie bedankt sich, dass ich ihr ihre Würde zurückgegeben habe. Sie habe wieder ins Leben zurück gefunden. Und sich verliebt. Danke!

Die letzte Zigarette, ich atme sie noch tief ein, dann, dann beginne auch ich ein neues Leben. Ich date eine, die mir gefällt. Es gelingt mir aber nicht! Ich bin noch nicht 30. Und ich kann nicht... ich gerate in Panik! Sie amüsiert sich. Verabschiedet sich nach einigen Kuscheleinheiten. War auch ganz nett mit dir, Kleiner! Klein, ich bin nicht klein.

Ich merke, ich wurde verändert. Kann jemals wirklich wieder lieben?

Test. Ich mache den Test. Mensa. Sie ist scharf. Ich setze mich zu ihr. Smalltalk. Vegetarisch, Geisteswissenschaften. Zehn Minuten dauert unser Gespräch. Wir sind schon alleine am Tisch. Sie legt ihr Glas auf Tablet und sagt zu mir: Sorry, nimm es nicht persönlich. Aber wenn du hier eine suchst die f....n kannst, dann such dir ne Andere. Bye!

Verraten mich meine Blicke und Gesten? Ist die Stadt so klein, dass sich meine Aktivitäten schon rumgesprochen haben? Kann ich gar nicht mehr anders?

Ich zünde eine Kippe an. Stehe am Eingang zur Uni. Versuche Blickkontakt aufzubauen, sie ist hübsch, sympathisch. Aber sie lächelt mich nicht an. Sie lacht mich aus und geht an mir vorbei!

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