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Zwischen den Welten

Text: NinaAnin

Mein Name ist Nasim Reza-Tehrani. Ich bin 32 Jahre alt. Ich bin in der Hauptstadt des Iran geboren und lebe seit meinem sechsten Lebensjahr in Deutschland. Ich bezeichne Deutschland als meine Heimat. Ich bin deutsche Staatsbürgerin, war hier im Kindergarten, bin aufs Gymnasium gegangen, habe mein Abitur gemacht, meine Ausbildung und mein Studium. Heute arbeite ich als freiberufliche Journalistin. Für viele bin ich ein Paradebeispiel gelungener Integration.



Ich war seit unserer Migration nie wieder in meinem Geburtsland. Zum Teil aus politischen Gründen und zum anderen, weil mir das Land fremd ist. Was mich bis heute mit dem Iran verbindet, ist, dass ich dort geboren bin, sechs Jahre dort gelebt habe und der größte Teil meiner Familie immer noch dort lebt.



Ich spreche besser Deutsch als Persisch. Um ehrlich zu sein: Ich kann sogar besser Englisch sprechen, lesen und schreiben als Persisch.



Ich koche deutsche Gerichte besser als persische. Außerdem koche ich sie viel öfter. Abendbrot ist mir nichts Fremdes, ich liebe Knödel, sterbe für Sauerbraten. Ja, ich esse Schweinefleisch. Damit nicht genug. Ich trinke Alkohol. Nicht viel, nicht oft – und auch nicht gerne Bier. Aber mal einen Rotwein, gerne einen Cocktail. Warum nicht mit Freunden auf ein tolles Ereignis mit einem Glas Sekt anstoßen?



Ach ja, ich habe einen Freund. Ich lebe sogar seit drei Jahren mit ihm zusammen. Ganz ohne Trauschein. Aber mit einem Sexleben. Jungfräulichkeit war einmal. Genauer gesagt, bis ich 16 Jahre alt war. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits meinen ersten Freund. Und ich musste ihn nicht verstecken. Ich habe keine Prügel von meinen Eltern bekommen, bin nicht von meinem Vater eingesperrt worden und mein Bruder ist auch nicht losgezogen, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Mein Vater hatte ein Problem mit meinem ersten Freund. Aber eben genau dasselbe Problem, das viele Väter mit dem ersten Freund ihrer Tochter haben. Nicht mehr und nicht weniger.



Ich habe schon mit Frauen und Männern zusammen gelebt, in WGs und Partnerschaften. Oft in Städten, die einige hundert Kilometer von meinen Eltern entfernt lagen.



In all diesen Jahren habe ich festgestellt, dass ich manchmal viel deutscher denken kann als so manch ein Deutscher. Wirklich.



Der ein oder andere mag jetzt denken: „Mädchen, wo liegt dein Problem? Dich meinen wir nicht.“ Und genau da liegt es, mein Problem. In der Klammer, die stets und von allen unterschiedlichen Standpunkten um Menschen gemacht wird. Mein Problem liegt in den gesellschaftlichen Parallelwelten, in Rütli-Schulen, in Pegida-Märschen, NSU-Morden und fanatischen Terroristen. Mein Problem liegt zwischen den Welten.



Als meine Familie nach Deutschland kam, gab es keine Integrationskurse, keinen Deutschunterricht, nichts dergleichen. Damals gab es diese Diskussionen rund um Migration und Integration noch nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmaß wie heute. Ich lernte Deutsch, weil meine Eltern darauf bestanden und weil wir als Familie soziale Unterstützung von allen Seiten bekamen: Von der Lehrerin, die freiwillig länger in der Schule blieb, um mit mir zu üben. Von dem Nachbarn, der nachmittags im Asylantenheim (damals lebten wir noch in einem) am Küchentisch neben mir saß und Hausaufgaben mit mir machte, von meinem alten Sportlehrer, den ich Opa nannte, und der mir die deutsche Lebens-, Ess- und Sozialkultur näher brachte. Ich lernte Persisch, weil der CVJM Kurse anbot, die in gesellschaftliche Abende ausuferten. Meine Eltern sorgten dafür, dass ich das persische Neujahrsfest kennenlernte und Weihnachten feierte. Sie sprachen mit mir über Gott – den islamischen, den christlichen, den weltlichen. Sie schickten mich sonntags in die Kirche, ich sang sogar im Kinderchor. Sie lasen Suren aus dem Koran, gaben mir Einblicke in die politische Struktur ihrer Heimat. Aber insbesondere brachten sie mir eines bei: Menschlichkeit. Sie erzogen mich nach menschlichen Werten, die für sie über jeder Gottesschrift standen. Du sollst nicht lügen, nicht töten, nicht urteilen, nicht hetzen. Du sollst lieben. Nur das Fegefeuer – das kannten meine Eltern nicht. Für sie hatte meine Erziehung – Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit – nichts mit einer Religion zu tun, sondern mit einer Lebenseinstellung. Sie hatten für meine Freiheit ihr Leben im Iran gegeben. Kopftuch, Burkinis und Ehrenmorde kannten sie für mich und meinen Bruder nicht. Einen freien, offenen Geist dafür nur allzu gut.



Und doch geschah eines: Ich schämte mich meiner eigenen, ursprünglichen Kultur. Nichts war mir eine lange Zeit verhasster als mit meiner Familie im Sommer an den Baggersee zu fahren. Ich hasste orientalische Musik und verkroch mich unter dem Autositz, wenn meine Eltern sie während der Fahrt hörten. Ich versuchte meinen Eltern den Mund zu verbieten, wenn sie anfangs mit gebrochenem Deutsch kommunizierten. Ich vermied jede persische Kulturveranstaltung und fand keinen Anschluss zu Gleichaltrigen aus dem Iran. Wie auch, wenn ich alles, was mich mit meinem Geburtsland verband, verbannte? Aber ist das der Zweck oder Sinn einer Integration? Oder ist das Assimilation?



Eine ganze Zeit vermied ich es in türkische Lebensmittelgeschäfte oder eine Dönerbude zu gehen. Aber nicht etwa wegen der Auslagen oder sonstigem Schnickschnack. Heute gehe ich wieder hinein. Aber an meinem Problem hat sich nichts verändert. Denn das, was in Deutschland als Rassismus bezeichnet wird, wird für eine Frau mit meinem Aussehen in solchen Läden zu einem, wenn auch anders gearteten, Problem. Ich werde angesehen wie ein Pferd, wenn ich das Geschäft Hand in Hand mit meinem Freund betrete. Oder ich werde ohne Wenn und Aber in einer anderen Sprache angesprochen. Ich kann keine andere arabische Sprache. Selbst wenn ich sie könnte, ich begrüße es einfach nicht, plötzlich ohne weiteren Grund in einer anderen Sprache angesprochen zu werden. Von Touristen mal abgesehen. Ich reagiere extrem verwundert und verdutzt, wenn ich bei McDonalds darauf hingewiesen werde, dass ein BigMac Schweinefleisch enthält. Unabhängig von der Frage, ob es überhaupt Fleisch enthält – was erlaubt sich dieser Mitarbeiter? Ich musste mich mehr als einmal in meinem Leben rechtfertigen, wenn ich in einem, nennen wir es muslimischen Restaurant, Alkohol bestelle. Bitte liebe Mitbürger – wo bin ich denn hier? Das beste Beispiel für eines der Probleme, die ich meine, zeigt sich anhand eines Beispiels aus meinem Berufsleben. Damals arbeitete ich als stellvertretende Theaterleiterin in einem Kino. Wir zeigten als eines der ganz wenigen deutschen Kinos den zweiten Teil von „Tal der Wölfe“. Ganze türkische Familien fuhren kilometerweit, um den Film bei uns zu sehen. Die Folge: Binnen weniger Minuten waren die Vorstellungen ausverkauft. Aber das Bild, das sich vor den Kinokassen zeigte, war viel aussagekräftiger. Männer, die sich weigerten, mit mir als Frau zu sprechen. Frauen, die mich beleidigten, weil wir „als deutsches Kino nur einen kleinen Saal für den türkischen Film freigeben, statt den Film in das größte Kino zu platzieren“ (bewusst ist dieser Fehler hier eingesetzt). Auf meine Aussage, dass wir eben auch das restliche, deutsche Publikum mit anderen Filmen befriedigen müssten, folgte die Aussage, in diesem Kino würden nur Rassisten arbeiten. Klar, Rassisten, die ausgerechnet „Tal der Wölfe“ zeigen und Iranerinnen beschäftigen.



Ich bin es satt, mich dafür rechtfertigen zu müssen. Ich war es damals schon und bin es bis heute noch. Für meine ausländischen Mitbürger ist es vielleicht ein Zeichen von Freundlichkeit, mich in ihrer Heimatsprache anzusprechen. Sie begrüßen mich in „ihrem“ Kreis. Ich kenne diesen Kreis aber nicht. Ich wurde auch nicht gefragt, ob ich diesen kennen möchte. Und ich will keinen in sich geschlossenen Kreis. Den mag ich aus Prinzip nicht. Ihr macht mir Angst, ihr schüchtert mich ein, verunsichert mich. Sagt einfach „Hallo! Was darf es sein?“ oder „Gerne! Trockenen oder süßen Rotwein?“. Und wenn das nicht gelingt, gegen deine Religion und deine Auffassung ist, dann hast du nur zwei Wege: Entweder du entscheidest dich, deine eigenen Grenzen zu überwinden oder du musst dir überlegen, in welchem Land mit welchen Grundrechten du gerade eben bist. Und ob das dann das richtige Land für dich ist. Was hast du dir erhofft, als du hierhergekommen bist? Wären die Vereinigten Emirate – reich und islamisch – nicht vielleicht die bessere Wahl gewesen?



So jetzt ist das Fass angeschlagen, nicht? Zum Glück wurde ich bereits mehr als einmal von meinen ausländischen Mitbürgern für rassistisch erklärt. Ich kann gut damit umgehen. Ich bin so rassistisch wie deutsch.



Deshalb mache ich bewusst an dieser Stelle einen Schwenk. Ich blicke auf uns. Auf mein Land. Und verdammt, es ist auch mein Land! Wo soll ich denn sonst hin? Und liebe Dresden-Läufer, kommt mir bloß nicht mit: „Dich meinen wir nicht!“ Doch ihr meint mich! Denn mich fragt vor der nächsten rechten Prügelattacke bestimmt niemand, wofür ich stehe oder welche Konfession ich habe. Ich sehe nun mal so aus, als sei ich muslimisch. Auch ganz ohne Kopftuch. Und ihr könnt ebenfalls nicht einfach immer Klammern um Menschen setzen. Also Klappe zu, Affe tot!



Ich möchte anhand eines Beispiels deutlich machen, welche Klammer ich hier meine und warum – unabhängig von dem offensichtlichen Rassismus – ihr ebenfalls einen falschen Weg geht und keine Diskussionskultur kennt.



Es war eines Abends, als ich mit einem Freund durch eine Unterführung lief. An der Wand gelehnt stand eine Gruppe rechter Idioten, die mich anstarrten. Ich fühlte mich direkt unbehaglich. Es ist ein Gefühl, dass nur die Menschen nachvollziehen können, denen Rassismus schon mal offen begegnet ist. Als wir aus der Unterführung wieder herauskamen, atmete ich tief ein und aus und sagte, dass ich mich sehr unwohl gerade gefühlt habe. Mein Begleiter war ganz irritiert und fragte, weshalb. Ich erwiderte, ob ihm die Gruppe Rechtsradikaler nicht aufgefallen sei. Seine Antwort war: „Oh, sorry, das ist mir gar nicht weiter aufgefallen. Also deine Hautfarbe und so. Ich habe ganz vergessen, dass es dich betreffen könnte.“ Mehr muss ich gar nicht dazu sagen. Ihr Dresden-Marschierer seid genauso. Ihr vergesst. Ihr vergesst den Türken, bei dem ihr euch euren Döner kauft. Ihr vergesst den Fußballkameraden aus eurer Mannschaft. Ihr vergesst den Taxifahrer, der euch sicher nach Hause bringt. Den Metzger, den Wirt, den Kinderarzt und euren Anwalt. Ihr wollt, dass man euch nicht in dem braunen Sumpf versenkt und macht doch nichts anderes als selbst gegen jeden zu sein, der erst einmal irgendwie muslimisch aussieht. Und deshalb kann euer Montagsmarsch nicht euer Ernst sein! Deshalb, so sehr ihr euch auch bemüht, aus der Mitte der Gesellschaft zu stammen und nicht als rechtes Pack abgestempelt zu werden, können Menschen, die einen klaren Verstand haben, euch nicht ernst nehmen.



Wisst ihr, in all den Jahren, die ich in Deutschland lebe, habe ich mehr als einmal gedacht, dass man hier mehr als nur aufpassen muss, was man sagt, sonst droht die nächste Nazi-Keule. Ich bin bis heute der Meinung, dass Deutschland viel toleranter und aufgeschlossener ist, als manchmal angenommen wird. Jede Diskussion in diesem Land wird sofort per 2. Weltkrieg-Keule und Hitler beendet. Kaum fällt einmal der Name oder ist von Juden die Sprache, zack, Gespräch beendet, Nazi-Stempel drauf und fertig. Das ist falsch. Das ist ebenfalls keine Diskussionskultur. In den ersten 24 Jahren in Deutschland gab es zwei rassistische Übergriffe auf mich. Gute Quote, mag ich behaupten, wenn ich mir ansehe, wie vielen Menschen ich im Laufe der Zeit begegnet bin. Nur – auch dieses Klima verändert sich. In den letzten zwei Jahren erlebte ich vier rassistische Anpöbelungen. Schade. Wirklich schade. Übrigens drei davon im Osten. Ich bin jetzt ganz provokant – ist das Zufall?



Der Rahmen, den sich der ein oder andere Bürger mit dem Dresden-Marsch ausgesucht hat, um seiner Angst, seiner Befürchtungen und der eigenen Unfähigkeit Luft zu machen, ist einfach erbärmlich und verachtenswert. Es ist der Rahmen von Kriminellen und rechts orientierten Menschen. Ein Rahmen gefüllt mit Hass, Lügenpresse, Hitler-Zitaten und Gewalt. Jeder, der nur klaren Menschenverstand besitzt, kann sich dieser Bewegung gar nicht anschließen. Da reicht ein Blick auf das Experiment von Tobias Schlegl oder ein Blick auf die Demo in Köln. „Auschwitz-University“ – euer Ernst? Ihr wollt keine Parallelwelt? Prima, ich auch nicht. Aber dann erschafft sie auch nicht oder macht die Kluft noch größer. Menschen, die arbeiten wollen, finden Arbeit. Ja, vielleicht. Aber Arbeit macht nicht frei – schon vergessen? Und das ist nicht mein Land. Ihr seid nicht mein Land. Andere Deutsche haben mir etwas ganz anderes beigebracht. Mein Land singt: Einigkeit und Recht und Freiheit. Es singt nicht: Lügenpresse, Heil Hitler und Ausländer raus. Singt sich übrigens auch scheiße. Und nur noch mal zur Erinnerung: Hitler war Österreicher, dazu ein rassistisches, krankes, feiges Arschloch, das sich selbst umgebracht hat. Und kommt bloß nicht später an und sagt: „Wir wissen auch nicht, wie das alles passiert ist.“



Schon mal drüber nachgedacht, dass kein Mensch, der über Meere schippert, über Berge flieht, zu Fuß Flüsse überquert und bei all dem stets sein eigenes Leben riskiert, dieses Risiko in Kauf nimmt, weil er sein eigenes Leben unfassbar gut findet? Wir reden hier ja nicht von „Goodbye Deutschland“, sondern von Menschen, die tiefster Not oder Leid entfliehen wollen. Ich kann es nicht mehr hören, wenn ihr Dresden-Marschierer argumentiert, dass es schließlich in muslimischen Ländern auch keine Kirchen gibt. Unabhängig davon, ob das stimmt oder nicht: In unserem Grundgesetz ist die Religionsfreiheit verankert. Ich darf diese nicht einschränken. Das andere Länder keine Religionsfreiheit haben, ist kein Argument. Und wenn dann ist es nur ein weiteres für Deutschland und nicht dagegen. Denn gerade weil Deutschland weiter ist – im Denken, in der Entwicklung, im Grundgesetz – darf dieses Land keinen Schritt zurück gehen. Moscheen zu verbieten ist so falsch wie es falsch war Juden zu verbrennen. Und auf lang oder kurz führt solch ein Verbot dazu, dass wir anfangen, Moslems zu verbrennen. Auch wenn der islamische Kalender das Jahr 1436 schreibt – wir in Deutschland leben im Jahr 2015! Da sollten wir bleiben und stolz darauf sein statt die Grundrechte, für die andere Menschen gestorben sind, mit Füßen zu treten. Da bleibt einem nur bei den Pegida-Anhängern zu sagen -  hoffen und beten: „Herr, wirf Hirn – und triff.“



Und apropos Herr, hier schließt sich der Kreis. Ein paar kurze prägnante Sätze habe ich noch. Für diese fanatischen, menschenverachtenden, abscheulichen, indiskutablen, islamistischen Terroristen: Ihr seid die Vollidioten, wegen denen ich mir im Freundeskreis Fragen wie „Wie stehst du eigentlich so zur IS?“ anhören muss. Im Ernst: Wie soll ich denn dazu stehen? Werft zehn Bomben drauf und wir haben ein Problem weniger auf dieser Welt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Moslems dieser Welt nicht auf der einen Seite weiter von einem liebenden, friedlichen, wohlwollenden Gott sprechen können und auf der anderen Seite Menschen unter derselben Schrift, sich und andere in den Tod reißen. Wenn ihr fanatischen Idioten sterben wollt, damit ihr endlich Sex haben könnt, dann reicht eine Rasierklinge oder eine Schlinge am Baum. Kommst du dann nicht in das Paradies und zu den Jungfrauen? Dann habe ich einen anderen Vorschlag: Töte deine Mutter, deinen Vater oder denjenigen, der dir diesen Schwachsinn in dein Hirn gepflanzt hat – aber bleibe doch unter deinesgleichen. Und im Ernst: Keine Jungfrau dieser Welt lässt sich auf einen Typen wie dich freiwillig ein. Und ich persönlich, Mensch, was freue ich mich auf den Tag, an dem du deine Taten vor der Himmelstür erklären musst. Schade, dass du dann nicht mehr von dem gewaltigen Arschtritt in die Hölle erzählen kannst, der dir wiederfahren ist. Und wenn doch deine Religion und dein Leben so unfassbar gut ist: Komisch, dass deine Frauen sich dagegen auflehnen. Komisch, dass es die Grüne Revolution und den Arabischen Frühling gab. Komisch, dass eine 14jährige zur Friedensnobelpreisträgerin erklärt wird. Glaub mir, all das geschieht nicht, weil ihr mit eurem Glauben, eurem Staat und euren Finanzen wahrlich Gutes für euer Land und eure Mitmenschen getan habt. 



Für alle anderen Moslems finde ich gilt, dass der islamische Glauben so was von dringend eine Reform braucht. Einen islamischen Martin Luther. Einen Menschen, der den anderen den Kopf wäscht, die Religion in die heutige Zeit führt. Friedlich, aber vehement. Wahrscheinlich überlebt dieser Mensch nicht länger als zwei Wochen auf dieser Welt. Aber er würde das Richtige tun. Zur richtigen Zeit. Alle anderen Moslems, die immer auf die Liebe des Korans schwören, sei nur mitgeteilt: Es mag sein, dass der Koran zum Beispiel nicht vorschreibt, dass die Frau Kopftuch tragen oder sich verhüllen muss. Aber dort steht, dass sie hinter einer Wand oder einem Vorhang zu dem Mann sprechen soll. Nun, lasst es mich so sagen: Alice Schwarzer köpft darauf nicht gerade eine Sektflasche.



Ich habe mich gefragt, wo die Solidarität in den anderen islamischen Ländern ist. Außer denen mit Bildern und dem Hashtag #notinmyname. Ich habe mit meinen bescheidenen Mitteln meine Familie im Iran gefragt. Die haben es mitbekommen. Über facebook, am Rande kurz in den Nachrichten. Deutsche oder französische Artikel verstehen sie aufgrund der Sprachbarriere nicht. Viele amerikanische Seiten sind gesperrt. Also habe ich angefangen, Zeitungsartikel in englischer Sprache zu kopieren und sie per Nachricht zu versenden. Andere Länder oder Menschen, die irgendwo zum Beispiel inmitten der Wüste leben, haben gar nicht die Möglichkeit, sich zu informieren. Andere kämpfen mit Hunger, Leid, Not, Kriegen, können nicht mal die eigene Sprache lesen und schreiben – auch mit diesen Menschen darf ich mich gedanklich nicht messen. Nicht immer von oben herab sehen und sagen: Warum machst du das denn nicht und sagst nichts? Was konnten wir für die Syrier tun, für die Ägypter, für die Iraner, als sie auf die Straße gegangen sind? Wir wollen Demokratie und Freiheit in diese Länder bringen und vergessen zu schnell, dass diese Grundwerte gelernt werden müssen. Und dass das ein sehr langer Prozess ist – im Übrigen einer, der auch in Deutschland noch nicht so lange her ist. Und die Hilflosigkeit, zumindest das Gefühl, hilflos zu sein, obwohl man Dinge gerne ändern möchte, aber es doch nicht zu können scheint, kennen wir bis heute auch in Deutschland.



Es gibt vieles, wofür ich mich auch in Deutschland nicht mehr rechtfertigen möchte. Ich bin es satt, diskutieren zu müssen, warum ich während einer WM Deutschlandflaggen schwenke. Ich bin auch kein Nazi, wenn ich „Die Gauchos gehen so“ singe. Das ist lächerlich. Ich bin dafür, dass Kriminelle ausgewiesen werden. Dass Menschen, die sich in keinster Art integrieren, keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Und ich bin für vieles mehr. Aber ich frage mich, wo denn hier in Deutschland die „islamischen“ Journalisten geblieben sind? Habe ich eure Artikel in den großen Zeitungen überlesen? Oder seid ihr schockgefroren zwischen Orkan und Schnee? Wo ist das Zeichen meiner muslimischen Mitbürger? Ich meine damit keinen Zentralrat. Ehrlich gesagt, der steckt so tief in seinem eigenen Sumpf und hat so wenig mit dem Leben der anderen Muslime hier zu tun. Integrierte Moslems erreicht er dennoch nicht. Wie sonst lässt sich erklären, dass seinem Aufruf immer nur ein paar hundert Muslime folgen?



Ich musste lange im eigenen Kreis über dieses Geschriebene diskutieren. Ich wurde gewarnt, abgehalten, musste mich rechtfertigen, sollte lieber schweigen. Aber das kann ich nicht. Es ist meine Bürgerpflicht, dies zu schreiben. Vielleicht sogar, weil ich es als „Ausländerin“ besser schreiben kann und einiges vielleicht auch einfach so aussprechen darf. Denn wie war das? Ich bin so rassistisch wie deutsch. Ich wünsche mir Menschen, die sich für mehr Liebe einsetzen. Deren Waffen die Kreativität und ihre Herzenswärme ist. Die aufeinander zu gehen. Miteinander reden, hitzig diskutieren, sich auseinander setzen. Aber eben an einem Tisch, ohne Waffen in der Hand, ohne Hass im Gesicht. Wir müssen voneinander lernen. Wir müssen sehen, dass diese Welt im Blut schwimmt. Heute sind es die Moslems oder der Islam, aber lasst uns nicht China, Nordkorea, Russland, den Sudan oder das brutale indische Kastensystem vergessen.



Wir haben viel zu tun. Parolen schmettern hilft da nicht. Sprechen, schreiben, reden dagegen sehr. Lasst uns anfangen, aufeinander zuzugehen. Versuchen zu verstehen. Vielleicht kann ich hier nach nie wieder in mein Geburtsland reisen. Vielleicht werde ich an jeder amerikanischen Grenze achtzehnmal auf den Kopf gestellt und mir letztlich doch die Einreise verweigert. Ich weiß es nicht. Aber es darf mich nicht hindern, das zu schreiben. Mich mundtot zu machen. Wir alle dürfen nicht mehr zwischen den Welten stehen. Wir müssen unsere Welt als das verstehen, was sie ist. Eine Welt. Und unsere aller dazu. Je suis Charlie. Und dazu noch Nasim Reza-Tehrani.

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