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Der Witz

Es ist Herbst und schon am Nachmittag verdunkelt sich der Himmel. Ich stehe an einer großen Ausfallstraße im Münchner Norden, es nieselt, ich friere und warte darauf, von jemandem abgeholt zu werden. Die wenigen Passanten, die vorbeikommen, kämpfen sich mit hängenden Mundwinkeln über die Bürgersteige. Sie sehen hässlich und grob aus, und sie machen damit schlechte Laune. Plötzlich eilt ein älterer Herr auf mich zu, ich erschrecke und trete ein Stück zurück, da packt er mich schon am Arm und sagt: „Was sagt ein ... zum Arzt?“
 
Ich habe den Mittelteil nicht richtig verstanden, bin aber noch so erschrocken von seinem plötzlichen Auftritt, dass ich nur hilflos mit den Achseln zucke. Also reicht er die Antwort nach, die ich wieder nicht richtig verstehe. Und dann lacht er und strahlt mich noch eine Sekunde lang mit hüpfenden Augenbrauen an, dreht sich wortlos um und eilt davon. Kurz bin ich benommen, dann vergnügt. Und für den Rest des dunklen Tages von misanthropischen Gefühlen befreit. Wenn einem an einem Tag wie diesem ein Fremder auf der Straße einen Witz erzählt, dann kann die Stadt, in der man lebt, so schlimm nicht sein. Selbst, wenn man den Witz gar nicht verstanden hat.  Mercedes Lauenstein
 

Der Lärm

Man denkt ja, man wisse alles über die Wiesn, wenn man dort so gut wie jedes Jahr war, seit man denken kann. Dieses Jahr habe ich gemerkt, dass das nicht stimmt.
 
Zweiter Wiesn-Samstag, circa 15 Uhr. Ich stehe mit einer Gruppe von etwa 15 Leuten an der Bavaria und habe eine Gitarre umgehängt. Die Gruppe ist der Münchner Kneipenchor, wir treffen uns einmal wöchentlich in einer Bar, um zu singen, und manchmal treten wir mit unserem Repertoire auf oder ziehen durch Kneipen. Heute haben wir uns an der Bavaria postiert.
 
Ein 15-Mann-Chor ist nicht leise. Eigentlich. Aber hier auf der Wiesn gehen wir unter. Wir singen aus voller Kraft, aber schon vier Meter weiter drehen sich die Leute nicht mal mehr um. Sie hören uns nicht. Die Geräuschkulisse der Wiesn verschluckt uns einfach.
 
Ich wusste schon vorher, dass das Oktoberfest laut ist. Aber noch nie habe ich den Lärm dort so bewusst wahrgenommen. Sonst liegt er da wie ein Teppich, den man nicht weiter beachtet. Man verschiebt seinen Lärm-Nullpunkt auf der Wiesn einfach ein paar Dezibel nach oben, ohne es zu merken. Jetzt aber, als ich da stehe, auf die Gitarrensaiten eindresche und singe, bin ich plötzlich selbst ein Bezugspunkt zu dem enormen Geräuschbrei um mich herum. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, die Wiesn wirklich zu hören und in all ihrem wunderbaren Wahnsinn zu begreifen.   Christian Helten
 

Weihnachten auf Shore und Koks

Ist ja nicht so, als gäbe es in München kein Elend. Es versteckt sich nur besser. Aber manchmal begegnet es einem halt auch Mitten in Haidhausen. Mir zum Beispiel in Form einer jungen Frau, die mit blaugefrorenen Lippen vor einer dieser komischen, beinahe unsichtbaren Trinkerkneipen mit „Zutritt ab 18“-Schild an der Tür auf dem Bürgersteig lag. Von den Menschen in der Kneipe wollte sie niemand kennen und nachdem ich ihr aufgeholfen hatte, fing sie zu weinen an und wollte im Arm gehalten werden.
 
Sie war sehr durcheinander und nicht ganz da und als ich fragte, ob sie irgendwohin könne, schüttelte sie nur den Kopf, und als ich fragte, ob sie ins Krankenhaus wolle, nickte sie. Also habe ich ein Taxi gerufen und sie in die Notaufnahme gebracht. Dort mit ihr gewartet. Sie sagte Dinge, die keinen Sinn ergaben, aber sie sagte auch: „Mein Freund ist im Knast.“ Und: „Ich bin Suchtpatientin.“ Und: „Ich wollte Weihnachten auf Shore und auf Koks feiern!“ Sie fragte, ob ich Weihnachten bei meiner Familie sei, und ich wollte „Nein“ sagen, aber ich kann nicht gut lügen, drum sagte ich „Ja“ und da weinte sie wieder.
 
Mein Herz brach mehrfach in diesen vielleicht zwei Stunden mit ihr, ganz besonders aber, als sie fragte, ob sie sich „mal ankuscheln“ dürfe. Als der Pfleger kam und sie in einen Rollstuhl setzte, hat sie mich geküsst und umarmt und dann saß sie da, im Rollstuhl, und lächelte und die Tränen liefen ihr über das Gesicht, und noch mal: Herz gebrochen.
 
Eine Freundin fragte mich später, ob ich auf der Hamburger Reeperbahn denn auch jedem aufhelfen würde. Komische Frage. Oder gute Frage? Ging das nur, weil man in München-Haidhausen nur ein Mal im Jahr jemanden auf dem Bürgersteig findet?  Valerie Dewitt
 

Stille Nacht

Man muss der Fairness halber wohl sagen, dass es ein Montagabend war, der aus dem Ruder lief. Keiner der bevorzugten Tage also, um im Pulk durch die Straßen zu marodieren und die Feierqualitäten Münchens lobzupreisen. Aber trotzdem! Die Ausgehrunde endete jedenfalls in der Favorit Bar und zwar so spät, dass der Barkeeper neuen Wein auch auf mehrmalige Nachfrage verweigerte. Also raus in die sommerliche Schwüle, Damenstiftstraße runter, am Altheimer Eck in die damals gerade arg zerfieselte Ruine schauen, in der mal die Deutsche Journalistenschule war, am alten SZ-Verlagsgelände entlang und weiter die Sendlinger Straße queren.
 
Ungefähr ab da breitete sich ein Unbehagen aus. Ein noch ganz unscharfes Gefühl der Verlassenheit, das erst auf der Strecke über Rosental und Viktualienmarkt bis zum Marienplatz zu einem klaren Gedanken wurde: Kein Mensch! Also nicht wie in: „Montagnacht ist in der Innenstadt ja echt kein Mensch.“ Sondern im Sinne von: Nicht eine einzige Person auf der Straße – und zwar, wie sich herausstellen sollte, auf einer Fußstrecke von mehr als eineinhalb Kilometern.
 
Im Tal bog ein Taxi in die Hochbrückenstraße ab. Am Thomas-Wimmer-Ring kreuzten noch zwei weitere. In meiner Erinnerung wehte kurz vorm Isartor eine leere Burgerschachtel vorbei. Aber da kann ich mich auch täuschen – manchmal füllt das Hirn die Lücken ja mit Dingen auf, von denen es glaubt, sie würden jetzt dazu passen. Beim Fahrrad vorm Cinemaxx bin ich mir wiederum ziemlich sicher, dass es wirklich umgefallen ist.
 
Die ersten Menschen, die ich kurz vor der Museumsbrücke traf, waren ihrem Englisch nach Amerikaner (eher Süden). Sie fragten, wo sie jetzt noch hingehen könnten. „Party! Drinking!“ Und weil ich inzwischen etwas verstört war von der Stadt, und deutlich nüchtern auch wieder, wollte ich nicht lügen: „Berlin“, habe ich deshalb wahrheitsgetreu gesagt. „Wahrscheinlich auch in Bielefeld. Hier ist niemand.“  Jakob Biazza

Stammkneipe

Ich war immer neidisch auf Menschen, die eine Stammkneipe haben. Denn ich fand es sehr erstrebenswert, eine Stammkneipe zu haben. Das gibt einem so ein Gefühl des Angekommenseins, dachte ich. Ein Gefühl des Hierhingehörens (auch wenn vermutlich sehr viele Menschen oft an einer Theke sitzen, weil sie eben nirgends hingehören). Allerdings wusste ich nie genau, was das eigentlich heißt: eine Stammkneipe haben. Muss man dafür jede Woche hingehen oder einmal im Monat?
 
Vor einer Weile war ich einkaufen, ich glaube in einem Drogeriemarkt. Als ich um eine Regalecke bog, stand dort einer der Türsteher der Bar, in die ich etwa einmal pro Woche gehe. Er sah von seinem Einkaufswagen auf, blickte mich an und begrüßte mich. Seitdem weiß ich, dass ich eine Stammkneipe habe.  Christian Helten
 

Demonstrieren

Am 22. Dezember war ich auf der ersten Kundgebung meines Lebens. Auf dem Max-Joseph-Platz war das und es ging gegen Pegida.
 
Also stand ich gemeinsam mit 12.000 (sagt die Polizei) bis 25.000 (sagen die Veranstalter) anderen Münchnern vor der Staatsoper. Ich hatte keine Angst vor den vielen Menschen. Dabei war ich genau aus diesem Grund vorher noch nie auf einer Demo. Ich war sehr glücklich über jeden Einzelnen, der zwei Tage vor Heiligabend verdrängt hatte, dass er noch ein Geschenk für Oma braucht oder eigentlich lieber auf der Couch liegen würde, und über die Polizisten, die sich freuten, dass so viele zusammengekommen waren. Als der syrische Flüchtling Ahmed auf der Bühne erzählte, wie er drei Tage auf der Erde vor der Bayernkaserne schlafen musste, war es, als hielten alle um mich herum den Atem an. Keiner sagte ein Wort. Auch die nicht, die mit Nespresso- und Louis-Vuitton-Tüten in der Armbeuge nur zufällig stehengeblieben waren.
 
Ich kann mit „Wir sind Weltmeister“ und „Mia san mia“ und wie man diese ganzen „Wir-Gefühl“ gerne noch betitelt, nichts anfangen. Aber, verdammt, WIR setzten zum genau richtigen Zeitpunkt ein Zeichen: bevor die Pegida-Bewegung in der Stadt ankommen konnte. Ich lebe seit sieben Jahren hier und nie fühlte ich mich hier so sehr am richtigen Platz wie an diesem Abend. Der Kabarettist Christian Springer sagte von der Bühne herunter, was ich in diesem Moment auch dachte: „Ja, des is mei Stadt!“  Kathrin Hollmer
 

Die Wohnung

Ich habe sehr geflucht. Auf die Stadt und ihre Makler, auf die Selbstauskünfte, auf die Besichtigungstermine morgens, mittags, abends. „Wohnungssuche in München“, dachte ich, „ist wirklich das Schlimmste. Und du wirst niemals eine Bleibe finden.“ Und dann: eine Anzeige in der SZ geschaltet, ein Gesuch, ganz analog. Der dritte Anruf kam vom nettesten älteren Herren der Welt auf Nachmietersuche. Wohnung angeschaut an einem kalten, klaren Samstagnachmittag. Der kleine Hund im Wohnzimmer hatte einen Hüftschaden. Der Vermieter sagte nach nur fünf Minuten am Telefon: „Ich schicke Ihnen den Vertrag.“ Und der netteste ältere Herr schrieb eine SMS, in der stand: „Manche Sachen sollen einfach sein.“ Nadja Schlüter

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