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Wo das Herz am lautesten pocht

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Wenn ich Besuch bekomme, kann ich mich darauf verlassen, dass er mich mit Schnappatmung oder einer Beschwerde über den anstrengenden Weg hierher begrüßen wird. Zwar wohne ich nur drei Minuten von einer U-Bahn-Station in Bestlage entfernt, dafür aber im obersten Stock – Altbau, kein Aufzug. Ich habe nachgezählt: 90 Stufen müssen meine Besucher gehen, ehe sie es sich auf der Eckbank in meiner Küche gemütlich machen können. „Könnt ihr euch denn keinen Aufzug zulegen?“, fragen die meisten. Oder sie bekunden mir ihr Mitleid: „Du Arme, musst jeden Tag so viele Treppen hochlaufen? Wie furchtbar!“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Diese Freunde und Besucher gucke ich als strenger Aufzug-Verweigerer dann verständnislos an. Treppenhäuser sind doch wunderbar! Je mehr Stufen, desto besser. Schon im Barock wussten die Menschen die große Bedeutung eines Treppenhauses zu schätzen. Die Reichen und Herrschenden nutzten es zur eindrucksvollen Selbstinszenierung. Ein Bild davon kann man sich in der Residenz Würzburg machen, die dank des größten zusammenhängenden Deckenfreskos der Welt über ihrem Treppenaufgang zum Unesco-Kulturerbe gehört. Die barocke Psychologie dahinter: Wenn der Weg zu einem Herrscher lang und prunkvoll ist, dann kommen die Menschen bestimmt mit Hochachtung bei ihm an.

Zum Angeben taugen die meisten Treppenhäuser heute nicht mehr. In einen Gemeinschaftsraum, indem man sich nie lange aufhält, will fast niemand Geld oder Arbeit stecken. Viele Treppenhäuser sind darum kahl, mit abgetretenen Stufen, von der Wand bröckeln Farbe und Putz. Im Winter ist es noch dazu kalt, bei schlechtem Wetter tragen die Nachbarn Dreck und Nässe herein und es hallt so sehr, dass man sich nur ungern unterhält.

Im Treppenhaus spüren wir  aufgeregtes Herzklopfen am deutlichsten

Treppenhäuser sind nicht gemütlich – aber trotzdem sehr wichtig: In den vertikalen Eingangshallen können wir innehalten, uns auf Dinge einstellen und Dinge verarbeiten. Sie sind Räume der Vorbereitung und Nachbereitung für alles, was sich hinter einer Tür verbirgt: Zuhause, ein netter Abend mit viel Wein, der Liebeskummer der besten Freundin oder eine Trennung. Wir kommen durchs Treppenhaus und wir gehen durchs Treppenhaus.

Wir kommen. Im Treppenhaus schleppen wir unsere Erwartungen, vielleicht sogar Vorsätze und Hoffnung, Stufe für Stufe bis zu einer Tür. Wir stellen uns vor, wie ein Treffen verlaufen könnte. Manchmal wünschen wir uns auch etwas von dem Menschen, den wir besuchen: ein bisschen Trost oder Einfühlungsvermögen, einen guten Rat, Zärtlichkeit oder eine Entschuldigung. Vor einer schwierigen Situation – sagen wir ein Streitgespräch mit einem guten Freund oder dem Schlussmachen mit dem Partner – können wir unsere Gedanken ein letztes Mal in Ruhe ordnen und uns die Worte zurechtlegen, die uns jetzt noch am ehesten richtig erscheinen. Im Treppenhaus spüren wir auch unser aufgeregtes Herzklopfen am deutlichsten, bevor ein toller Mensch uns seine Tür öffnet. Wenn wir es besonders eilig haben, nehmen wir eventuell sogar immer zwei Stufen gleichzeitig, bis wir mit Serotonin-Überschuss in den Armen des tollen Menschen liegen.

Wir gehen. Nach einem Besuch sind wir dann im Treppenhaus mit unseren Erlebnissen und Gefühlen zum ersten Mal alleine. Dort beginnen wir zu verarbeiten. Wenn es ein schönes Treffen war laufen wir die Treppen beschwingt hinunter, vielleicht sogar mit einem Lächeln im Gesicht. Nach dem zermürbenden Streit mit unserem guten Freund, für den wir uns vorher die Worte zurechtlegen mussten, setzen wir uns stattdessen lieber auf die Stufen. Nur, um ein bisschen Kraft zu sammeln. Um uns für ein paar Minuten noch geschützt zu fühlen, bevor wir auf die Straße müssen. Oder wir bleiben hocken, weil wir noch etwas Zeit brauchen, bevor wir einen Menschen und sein (Treppen-)Haus endgültig verlassen.

Selbst das langweiligste Treppenhaus hat eine ähnliche Bedeutung wie die symbolisch aufgeladenen Durchgangsorte, die wir aus der Literatur und Filmen kennen: Man denke an „Alice im Wunderland“, die durch einen Kaninchenbau ins Wunderland gelangt. Oder an Astrid Lindgrens wehmütig-schönes Märchen „Allerliebste Schwester“: Durch ein Loch unter dem Rosenbusch im Garten gelangt das Mädchen Barbro in die verzauberte, wenn auch imaginäre Welt ihrer Zwillingsschwester. Wie diese Orte markieren auch Treppenhäuser den Übergang von einer Welt in die andere, sind Scharnier zwischen Draußen und Drinnen. Das Draußen ist unser Alltag, der Trott. Das Drinnen der Ort, an dem etwas mit uns passiert. Etwas Schönes, etwas Schlimmes. Wo wir etwas erleben, etwas beginnen oder beenden und uns erholen.

Am meisten liebe ich mein eigenes Treppenhaus, das meine Besucher so hassen. Wenn 90 alte Stufen nacheinander unter meinen Füßen knarzen, dann weiß ich: Ich bin gleich daheim. Beim mühsamen Treppensteigen stelle ich mich ein auf mein Zuhause hinter der obersten Tür. Ich freue mich auf meine Eckbank in der Küche, auf das schummrige Licht meiner Flohmarktlampe und aufs Runterkommen. Wenn unter mir die Stufen knarren, ist das für mich das schönste Ritual, das ich kenne: eine Zeremonie des Heimkommens.

Text: daniela-gassmann - Foto: BJO3RN / photocase.de

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