Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

"Die Jugend ist ohne jede Hoffnung!"

Teile diesen Beitrag mit Anderen:



Die Tunesier haben abgestimmt: Am Sonntag konnten sie in Stichwahlen erstmals seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 (und damit auch zum ersten Mal seit dem Sturz von Diktator Zine El Abidine Ben Ali im Jahr 2011) ihren Präsidenten direkt wählen. Ein gewaltiger Schritt für das Land, von dem aus die arabische Revolution auf die Welt übergiff - und das dem Westen noch immer als eine Art Musterschüler gilt. Beim ersten Wahlgang am 23. November 2014 konnte keiner der 27 Kandidaten eine absolute Mehrheit der Stimmen erzielen. Am Sonntag traten Béji Caid Essebsi und Moncef Marzouki zur Stichwahl an.

Der 88-jährige Essebsi diente bereits unter Staatsgründer Habib Bourguiba. Der 69-jährige Marzouki war Anfang 2012 mit Unterstützung der islamistischen Partei Ennahda zum Übergangspräsidenten gewählt worden. Der Wahlkampf war von gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Marzouki präsentierte sich als Verteidiger der "Revolution". Essebsi wiederum warf Marzouki vor, ein "Extremist" und Vertreter der Islamisten zu sein, die das Land seit 2011 heruntergewirtschaftet hätten.

Nach Angaben der Wahlbehörde ISIE gingen lediglich 59 Prozent der 5,3 Millionen Tunesier zur Urne. Beide Stichwahl-Kandidaten reklamierten am Sonntagabend den Wahlsieg für sich. Ein amtliches Endergebnis steht noch nicht fest. Wir haben ein paar wichtige junge Stimmen Tunesiens dennoch schon mal um ihr Gefühl zur Wahl gebeten:
 

Lina Ben Mhenni, 31

ist Linguistin, politische Bloggerin und Internetaktivistin. Sie setzt sich in Tunesien für Menschenrechte ein und kämpft gegen Zensur. Sie war die erste Bloggerin, die während der tunesischen Revolution über die Grenzen des Landes hinaus Gehör fand. Lina wurde damals von internationalen Medien zur "Stimme des tunesischen Aufstandes" stilisiert.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Ich hatte gemischte Gefühle, als ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Präsidenten wählen durfte. Ich fand die Idee, nach so vielen Jahren der Diktatur endlich mehr oder weniger frei wählen zu können, natürlich sehr verlockend. Allerdings spiegeln diese Wahlen meiner Meinung nach weder den Willen des tunesischen Volkes wider, noch den Verlauf der Revolution, wie wir uns diesen gewünscht hätten. Die Tatsache, dass die meisten Ziele der Revolution in Vergessenheit geraten sind, tut mir weh und macht mich zutiefst traurig.

Wo war die Justiz während des Transitionsprozesses? Wo war die Gerichtsbarkeit, als Kriminelle die Protagonisten unserer Revolution töteten? Wo war sie, als Menschen verwundet wurden und man ihnen keine medizinische Versorgung zuteilwerden ließ? Wie kann es sein, dass Menschen, die als Symbole für die Diktatur Ben Alis stehen, ein Recht auf Straffreiheit hatten und sich sogar als Präsidentschaftskandidaten auf die Liste setzen lassen durften?

Die Wahl wurde im Vorfeld sehr stark polarisiert. Zu stark. Die Masse der Menschen erhielt den Eindruck, dass es trotz der 27 Kandidaten nur zwei reelle Auswahlmöglichkeiten gab: Entweder gegen die Islamisten wählen und damit Béji Caid Essebsi, oder gegen eine Rückkehr des alten Regimes und damit Moncef Marzouki. Man konnte sich schon vorher ungefähr ausrechnen, wozu das führen würde.

Was mir eine gewisse Hoffnung gibt, ist die Tatsache, dass sich Gegner Ben Alis wie Hamma Hamammi aufstellen lassen konnten. Die Kandidatur einer Frau, Kalthoum Kannou, macht mich geradezu stolz.
 
Dennoch blicke ich skeptisch in die Zukunft. Man darf nicht vergessen, dass die islamfreundliche Partei Ennahda noch immer zweitstärkste Kraft im Parlament ist. Wir müssen weiter sehr wachsam sein. Sonst können wir die Revolution begraben. Der Erfolg der Revolution und damit die Etablierung demokratischer Prozesse bedeuten mehr als eine Wahl.
 

Malek Khemiri, 27

ist Rapper der tunesischen Gruppe Armada Bizerta. Die Gruppe stammt aus der nordtunesischen Stadt Bizerte und sang bereits unter Ben Ali gegen die Diktatur an. Als sich mit den politischen Umstürzen des Jahres 2011 internationale Medien für Armada Bizerta, die musikalische Stimme der Revolution, zu interessieren begannen, tat dies auch die tunesische Polizei. Die Gruppe ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern und verpackte ihre Kritik am gewalttätigen Polizeiapparat und einem korrupten politischen System in ironische Texte – die in der arabischen Welt jeder versteht, der sie verstehen will. In den vergangenen vier Jahren spielten Armada Bizerta auch auf europäischen Bühnen. Ihr Augenmerk ruht jedoch weiter auf den Entwicklungen im eigenen Land. Malek studiert audiovisuelle Kommunikation, dramaturgisches Schreiben und Regie.

Die Auswahl zwischen 27 Kandidaten hat mich nicht interessiert. Und noch viel weniger die Stichwahl zwischen Marzouki und Essebsi. Ich habe diese Wahlen boykottiert. Die Jugend dieses wunderbaren Landes ist ohne jede Hoffnung auf eine Zukunft. Die ökonomische Situation wird immer schlimmer und es gibt niemanden in der Politik, der sich dessen wirklich annehmen will.
 
Unsere Aufgabe ist es, eine Gegengewalt gegen das korrupte politische System zu sein. Ich habe das Recht, mich nicht von diesen Leuten repräsentieren lassen zu wollen. Wir müssen einem neuen, demokratischen System den Weg bereiten, indem wir innerhalb des bestehenden Systems opponieren: mit den Waffen der Kunst. Genau darum geht es auch in unserem jüngsten Lied. Um die Frage, wie wir uns innerhalb des institutionalisierten politischen Prozesses enthalten und trotzdem etwas bewegen können.
 
http://soundcloud.com/katibe-5/armada-t-1m
 
Im Rahmen meines Studiums habe ich Ereignisse der jüngeren politischen Vergangenheit in einer Dokumentation aufgearbeitet, anlässlich eines Revolutions-Festivals in der Nähe von Sidi Bouzid (dem Ort, an dem sich am 17. Dezember 2010 ein junger Gemüsehändler aus Verzweiflung selbst anzündete und damit den Anstoß für die Massenproteste gab, die zum Sturz von Diktator Ben Ali führten, Anm. d. Red.).
 
Der Film heißt: ‚Sich erinnern bedeutet zu leben‘
http://www.youtube.com/watch?v=GPxFI9LpBec&feature=youtu.be

Er handelt von einem jungen Revolutionär, der eine Kugel im Bein trägt, die ihm von Schützen des Regimes dort hineingejagt wurde. Ich lasse darin die Ereignisse im Januar 2012 Revue passieren, als 16 Tunesier von Scharfschützen getötet und elf verletzt wurden. Der Protagonist fühlt sich weder von Esebssi noch von Marzouki repräsentiert. Er zitiert Esebssi mit dem Satz, es habe keine Scharfschützen gegeben. Mein Zeitzeuge antwortet ihm: ‚Wenn es keine Scharfschützen gibt, dann warst du es also, der auf mich geschossen hat.‘
 
Dieser Film ist meine Antwort auf die aktuellen Entwicklungen. Ein Film, der sich dafür einsetzt, dass die Ideen der Revolution nicht verlorengehen. Dass die Energie nicht verpufft. Dass die Mörder des Volkes nicht vergessen werden und wir uns an unsere verlorenen Träume erinnern.
 
 

Nidhal Chemengui, 28

ist Bloggerin und Projektleiterin des Goethe-Instituts in Tunis: Sie entwickelt dort ein Radioprogramm für Frauen. Tunesien ist historisch das arabische Land, in dem Frauen seit Jahrzehnten Freiheitsrechte hatten, darunter jenes, zur Wahl zu gehen und Bildung zu genießen. Absurderweise wurden diese Rechte von Diktator Bourguiba installiert und von dessen Nachfolger geschützt. Ausgerechnet nach dessen Sturz, auf dem Weg in eine demokratische Zukunft, stellten islamistische Bestrebungen in der Gesellschaft die Rechte der Frauen ernsthaft in Frage.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Bei den ersten Präsidentschaftswahlen unseres Landes bin ich natürlich wählen gegangen. Ich war sehr überzeugt von einem Kandidaten. Wer das ist, möchte ich nicht sagen. Das ist für mich Teil des Wahlgeheimnisses. Bei der Stichwahl am Sonntag haben sich jedoch zwei Kandidaten präsentiert, von denen ich mich in keinster Weise repräsentiert fühle. Beji Caid Essebsi ist nicht nur alt. Er setzt zudem auf so eine paternalistische, väterliche Art, wie es auch unsere Diktatoren taten. Ich brauche aber keinen Vater oder Großvater als Präsidenten, ich brauche Demokratie! Essebsi ahmt den Diskurs Bourguibas nach. Er ist der Garant für Kontinuität: Die Kontinuität eines Systems, das sich bis heute nicht gewandelt hat.
 
Marzouki, der wird indirekt von den Islamisten unterstützt. Deshalb will ich nicht, dass er ein zweites Mal Präsident wird. Wenn die Revolution für etwas gekämpft hat, dann auch dafür, dass diese endlosen Mandatsfolgen gestoppt werden.
 
Keiner der beiden ist überzeugend. Ihr Wahlkampf war lächerlich: schwache Diskurse ohne Argumente. Sie hatten nicht mehr zu bieten, als jeweils aufeinander zu reagieren – ohne sich jemals mit den Bedürfnissen des Volkes auseinanderzusetzen, das sie repräsentieren sollten. Sie wollen einfach diesen Posten innehaben. Aber sie wollen nichts im Land ändern.
 
Wir jungen Tunesier wollen und brauchen transparente Institutionen und Gesetze, die diese schützen und ein komplett korruptes System verändern. Es gibt einfach nichts, was der Staat auf die Reihe bekommt. Nicht die einfachsten bürokratischen Prozesse. Eine riesige Baustelle ist der Bildungssektor. Wie kann es sein, dass wir jetzt schlechtere Bildungschancen haben als in der Diktatur? Wie soll ein Land eine Zukunft haben, das sich nicht um die Ausbildung seiner Jugend kümmert? Aktuell ist nicht absehbar, dass sich einer der gewählten Kandidaten dieser fundamentalen Fragen annehmen würde, die uns allmählich in Richtung eines Wohlfahrtsstaates bringen würden.
 
Wenn Tunesien als das Musterbeispiel einer demokratischen Revolution in einem arabischen Land dargestellt wird, ist das für uns gefährlich. Wir laufen Gefahr, dass sich diese falschen Klischees  in der internationalen Wahrnehmung festsetzen – so, wie das auch schon zu Ben Alis Zeiten der Fall war: eine Diktatur, ja, aber hey, mit guter Bildung und Rechten für die Frauen. Das ist so zynisch.
 
Tunesien ist ein wunderbares Land, aber es fehlt so viel. Es bringt uns überhaupt nichts, wenn die Welt da draußen denkt: Wie hübsch, die Tunesier haben ihre ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen hinbekommen.


Text: sandra-zistl - Fotos: oh

  • teilen
  • schließen