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Tagtraum: Notenvergabe

Text: Sophie_an_Welt

Nervöse Gesichter. Fahrige Hände. Geplapper. „So, aus Rücksicht auf Privatsphäre bleiben Sie bitte da vorne stehen, ich rufe Sie dann auf“, keucht der Rektor ins Mikro, er musste sich auf dem Weg zur Bühne durch eine Gruppe angsterfüllter Abiturienten kämpfen, die ihren Todesstoß erwarten: Die Notenbekanntgabe.



„Schade“, denke ich mir, „Schade, dass diese Veranstaltung nicht ein wenig mehr Glamour ausstrahlt.“ Auf zwei klapprigen Schultischen in jeweils einer Ecke der in der Aula befindlichen Bühne liegen die Papiere, die die Ergebnisse der Arbeit der letzten 12 Jahre enthalten. Wie wäre es beispielsweise mit einem roten Teppich? Und Blumen? Oder wenigstens einem weißen Tuch über dem Tisch?



„Also wenn ich schon eine Wunschliste anlege, dann richtig!“ Ich hab da schon ein genaues Bild im Kopf: Heidi Klum!



Dieses Topmodel, deren Jury-Erfahrung mindestens so international ist wie sie, würde der Aula den Vorstadtcharme nehmen und die Notenbekanntgabe zu einem medialen Großereignis machen. Genau das, was sich die Generation „Selfie“, dominiert durch Selbstdarstellung, wünscht.



Zuerst: Ein dramatischer Lifewalk zu Musik die unseren harten Kampf repräsentiert. Dann stehen wir zu zweit vor der Jury, klammern uns aneinander. „Hallo ihr beiden“, piepst Frau Klum, „Eure letzten Prüfungen liefen ja ganz gut.“ Ein leises Lächeln huscht über die Wangen der verängstigten Abiturienten. „Aber es zählt ja auch die gesamte Leistung, oder?“ Das Lächeln verschwindet, konzentriertes Nicken. Die Hände der Schüler verkeilen sich ineinander. „Hannah!“ Mit großen Augen sieht Hannah zu dem Topmodel auf und schluckt. „Ich muss sagen. Dein Matheabitur hat mich wirklich enttäuscht. Du musst einfach mehr aus dir rausgehen, trau dich mal was! Spring mal ohne Fallschirm, zerschneide die Seile!“ Hannah weiß was Heidi meint, sie nickt und beißt sich auf die Lippe. „Lea!“ Lea, zuckt zusammen, der gleiche schuldbewusste Blick wie bei Hannah. „Mathe war ja nicht deine Stärke, aber ich muss sagen...“ Kunstpause „Diesesmal“ Pause „Hast du es super gemacht!“ Heidi Klums Stimme wird schriller. „Aber es ist ja nur ein Teil deiner Abiturprüfung“ Tränen bilden sich in Leas Augen. Glück? Trauer? Man weiß es nicht, wird es aber im Backstageinterview erfahren. „Ich habe in meiner Hand“, Kunstpause, „Nur noch einen Schnitt, der besser ist“, Pause, „als 2,0.“ Intensiver Blickkontakt zwischen Abiturienten und Jury. „Lea.“ Close-up Lea, damit die Zuschauer der Life-Übertragung die Emotionen auch hautnah erleben können. „Hannah.“ Close-up, Blabla, Empathie. „Eine von euch wird es sein“ Jetzt dramatischer Wechsel zwischen den beiden Gesichtern. „Die einen Schnitt von 1,8 hat“, Lange Kunstpause, dann in die verzeifelte Stille hinein Frau Klums schriller Schrei: „Lea“ Lea bricht weinend zusammen, ihre Schminke verläuft, sie fällt Hannah in de Arme. Heidi Klum strahlt und überreicht ein Krönchen und ein Blatt Papier. Küsschen, Küsschen, „Viel Glück“. Auch Hannah bekommt das Blatt Papier und eine Umarmung vom Topmodel. Die beiden verlassen die Bühne und werden von einer kreischenden Schar Schüler empfangen.



Als ich dann aber mein eigenes Blatt Papier überreicht bekomme, ganz unglamourös, von einem mittelalten Direktor, der mir einen feuchten Händedruck gibt und anerkennend nickt, wird mir eines  klar: „Diesen Moment für das zu schätzen was er ist, macht ihn wertvoll genug, ohne, dass eine aufgezwungene künstliche Realität von Nöten wäre um mich darauf hinzuweisen.“

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