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"Baby, ich brauch dich nah bei mir!"

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Wanda, die österreichische Band der Stunde, singt ein Lied für eine Frau namens „Luzia“: „Tu mir weh, Luzia, oder irgendwer anders tut’s statt dir!“ Ein verzweifelter Ruf nach Sex oder Liebe oder etwas dazwischen. Die Verzweiflung und das Dreckige daran werden vermischt mit der sehr guten Laune, die das Lied musikalisch macht. Und diese Mischung aus Verzweiflung und guter Laune kulminiert in dem Kosenamen, mit dem Wanda ihre Luzia anraunzen: „Baby, ich brauch dich nah bei mir!“ heißt es einmal und „Mein Glied unterwirft sich der Diktatur deines Mundes, Baby!“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Wanda singen sehr oft „Baby“, in fast jedem Song. Sie übertreiben es fast ein bisschen damit. „Ich fall in ein tiefes Loch hinein – Baby, hilf mir raus“; „Wir haben so viel Zeit, Baby“; „Weil niemand weiß, dass es uns überhaupt gegeben hat, Baby“; „Baby, komm nicht zu spät nach Haus“; und immer so weiter. Und auch ansonsten taucht das Wort in der deutschsprachigen Popkultur gerade ziemlich oft auf. So zum Beispiel: „Eines Tages Vegas, Baby“ (Casper – XOXO). Oder so: „Baby, bitte mach dir nie mehr Sorgen um Geld“ (Cro – Einmal um die Welt). Oder so: „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby“ (Kraftklub – Karl-Marx-Stadt). Und wenn man hinhört oder mal rumfragt, dann merkt man: Freunde und Bekannte und Kollegen sagen es jetzt auch. Zum Partner oder zur besten Freundin.

„Baby“ ist eigentlich so ein Wort das hier bei uns immer fehl am Platz war. Es war ein amerikanisches Wort. Es hatte diesen Achtziger-Jahre-Pop-Charme, Männer mit zu hohen Stimmen sangen es auf den Radiosendern, die das Beste der Achtziger, Neunziger und von heute spielten. Es tauchte in romantischen Filmen mit traditioneller Rollenverteilung auf, da sagten es die Männer zu den Frauen oder die Frauen hießen gleich so, siehe „Dirty Dancing“. Und: Es war auch ein Wort aus Pornofilmen. Da sagten es auch die Männer zu den Frauen, „Baby, fuck, yeah!“, so ungefähr. Darum war „Baby“ auch immer ein bisschen schmierig. Es schwang „Ich bin der große, starke, männliche Typ und du bist die süße Kleine, die beschützt, aber auch durchgenommen werden muss“ mit und man konnte es in einem deutschen Satz nicht ernsthaft verwenden. Aber jetzt scheint „Baby“ angekommen zu sein, bei den jungen und coolen und unschmierigen Menschen. Es ist der Kosename der Stunde, so wie Wanda die Band der Stunde ist. Wie ist das passiert?

„Baby“ ist, wie so vieles, den Weg von der Geschmacklosigkeit über die Ironie zur Mode gegangen. Erst waren da, wie gesagt, der Achtziger-Pop, die romantischen und die Porno-Filme. Doch dann kamen die Paare, die ironisch „Baby“ zueinander sagten. Das hatte etwas Trashiges, über das andere die Nase rümpften oder die Stirn runzelten oder lachten. Es hieß: „Wir sind so was von kein ‚Dirty Dancing’-Paar, beim Versuch gemeinsamer Hebefiguren würden wir einfach zusammenbrechen – wir fahren stattdessen besoffen zu zweit auf einem Fahrrad und fallen dabei um oder werden von der Polizei angehalten.“ Und trotzdem war da immer der Wunsch nach der „Dirty Dancing“-Romantik, nur eben rübergerettet ins 21. Jahrhundert, mit weniger Frau so, Mann so, aber sehr viel Leidenschaft. Wer „Baby“ sagte, der fühlte sich weit weg von Beziehungen, die von Anfang an pragmatisch auf Hauskauf und Kinder ausgerichtet sind, in denen man nur noch „wir“ sagt und nie mehr „ich“. „Baby“ sagen, das war eben doch wie Anlauf nehmen und in die Hebefigur springen, nur dass die Hebefigur jetzt das gemeinsame Kiffen oder Spontan-ans-Meer-fahren war.

Weil sich dieses Konzept von Beziehung, dieser moderne Entwurf von zwei unabhängigen Individuen, immer weiter durchgesetzt hat, ist „Baby“ in den urbanen Beziehungs-Mainstream eingezogen. Es ist der Gegenentwurf zu „Schatz“ und „Maus“ und „Hase“, den süßlichen, braven Kosenamen aus den Doppelhaushälften und Vorgärten der Speckgürtelsiedlungen. Es verhält sich zu ihnen wie „Fuck!“ zu „Verflucht!“ Es ist heftiger, härter, irgendwie sexier. In den Songs von Wanda und Cro und Casper und Kraftklub hat es immer etwas Raues, Verzweifeltes oder Abenteuerliches, etwas von gemeinsamem Ausbruch. In der deutschsprachigen Popkultur schwingt sie mit, diese Sehnsucht nach Beziehungen, die romantisch, aber immer auch ein bisschen kaputt und gefährlich sind. „Baby“, das ist die gutgelaunte Verzweiflung, das ist das Wissen darum, dass man sich wahrscheinlich sowieso wieder verlieren wird – aber vorher war es wenigstens wild. Vielleicht ist es auch der Wunsch danach, dass es genauso kommt, weil man ja nun wirklich nicht in der Doppelhaushälfte landen will. Schmerz macht immer noch bessere Laune als Trott. Und ein bisschen sorgt „Baby“ wohl auch dafür, dass sich die Menschen, die es singen und sagen wie die Protagonisten eines Films fühlen. Ein Schritt in Richtung Bonnie und Clyde statt ein Schritt Richtung Ehegattensplitting.

Aber wie fast alles auf der Welt ist auch „Baby“ von der Inflation bedroht. Es hat den Sprung vom Trash zur Ironie zur Hymne auf die moderne Version von Leidenschaft geschafft. Doch wenn es jetzt immer weiter und weiter verwendet wird, dann endet es wie „Schatz“: Menschen rufen es durch die Wohnung, wenn sie ihren Schlüsselbund suchen. Noch singt Hansi Hinterseer: „Du bist ein Schatz, mein Schatz, ich halt dich ganz, ganz fest.“ Wenn er bald „Schatz“ durch „Baby“ ersetzt, dann müssen Wanda und all die anderen sich und wir alle uns etwas Neues einfallen lassen. Bis dahin gilt: „Eines Tages Vegas, Baby!“

Text: nadja-schlueter - Illustration:

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