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sonntag nacht

Text: nicoversum
nächte von sonntag auf montag waren nie bester freund gewesen, selten stand einem die woche, mit all ihren absurden verpflichtungen und dingen, die man aus nächtlicher perspektive sowieso niemals schaffen würde, nicht bevor. diese nacht war es im grunde das gleiche, aber irgendwie etwas ganz anderes. wie zwei verschiedene bolognaisen, eine von einem selbst, die andere von jemandem der von kochen etwas versteht zubereitet. die zutaten sind die gleichen, sogar die gewürze mögen die gleichen sein, aber die eine lässt sich kaum als bolognaise bezeichnen, schmeckt fad und sieht aus wie ein haufen kacke auf spaghetti, die andere lässt den gaumen jubeltänze aufführen. 

drei wochen ruhe, mit frischverliebter, beinah extatischer grundstimmung. das universum schien guter laune gewesen zu sein, hat wahllos glück verteilt, irgendwie stand man zur richtigen zeit am richtigen ort und bekam die volle dröhnung ab. mehrfach hintereinander. man führte das urlaubsleben das man führt, mit einer frau in jener zeit, in der tage zusammen zu verbringen bereits alle ansprüche an einen sinn im leben zu finden erfüllen imstande sind. in der sich die eigenen lippen im viertelstundentakt, aus irgendeiner erinnerung an momente mit ihr heraus, zu einem grinsen bis verrückt anmutendem strahlen formen. in der das herz aus der brust herausschlagen möchte. in der man abends ins bett geht und sich auf den nächsten morgen freut. sowas passiert nicht oft. um nicht zu sagen nie. und man war, verständlicherweise, durchaus interessiert daran auf die safari aufzuspringen um herauszufinden, welche entdeckungen mit ihr alles gemacht werden können.

nach drei wochen dieser realitätsfernen, pinken blubberblase endet trotzdem immer alles hier, auf sich allein gestellt, sonntag nacht, in einem viel zu großen doppelbett, ein laptoplämpchen blinkt, das handy leuchtet auf, vibriert, herzsprung, mitteilung von fonic, dass man nur noch zwei euro guthaben habe, die waschmaschine schleudert seit einer gefühlten stunde, weil irgendein bekloppter mitbewohner auf die idee kam, nachts um eins wäsche zu waschen. alles piept, flimmert und schnauft, hält sich für wichtig und ist doch der inbegriff von bedeutungslos.

von bedeutung sind momente mit ihr. besäufnisse mit freunden bei denen die revolution besprochen, geplant, begossen und vergessen wird. nachmittage im park, t-shirt ausgezogen, den eingebleichten oberkörper bräunen, am joint zu ziehen der rum geht, grillen, lachen, genießen. musik zu machen und musik zu hören. zu schlafen und zu träumen. alleine mit seinen gedanken zu sein, mit impressionen und bildern der welt außerhalb seines provisorisch eingerichteten wohnzimmers im kopf. die möglichkeit zu haben, zu rekapitulieren, zu erinnern und nachzudenken.

aber nein! das gehirn denkt nicht daran, daran zu denken. und wenn es das doch tut, dann nur um einen den mittelfinger zu zeigen und das gemeinste nelsonsche "HAHA" rauszuhauen.
stattdessen denkt es an den plan, morgen, nach fünfmonatigem wälzen in der eigenen gewissens- und verantwortungslosigkeit, endlich mit der verfickten abschlussarbeit anzufangen, der letzten hürde eines bis dato erfolgreichen vierjährigen studiums. es denkt an den termin morgen um 10, an die verabredung am abend mit einem typen den man nur aus schlechtem gewissen trifft, weil ein freund von ihm mal mit einem befreundet war und er frisch hergezogen ist und niemanden kennt. es denkt an den termin am dienstag morgen um neun, zu dem noch eine präsentation über stoff, von dem man eine ahnung weder hat, noch unbedingt haben möchte, gebastelt werden muss, es denkt an winter, an nicht gemachte arzttermine, an ausgeliehene dinge, die einem ans herz gewachsen sind und zurückgefordert werden. soweit das auge reicht termine, verpflichtungen und aus oben beschriebener guten laune heraus gemachte zusagen. die woche wirkt wie diese fotos von 20 straßenschildern auf drei metern straße. undurchdringlich, undurchschaubar. wenn das wirklich der ernst des lebens sein soll, dann will man mit dieser hirnrissigen angelegenheit nichts zu tun haben. man möchte sich im schrank einsperren und warten, bis alles vorbei ist. man möchte ein one way ticket nach havanna kaufen. irgendwas. hier ist viel zu viel in viel zu kurzer zeit. viel zu viel langweilige, abstruse, lebensferne scheiße.

man liegt wach und fragt sich warum. man sorgt sich um alles. man sorgt sich darum krank zu werden, weil nur noch vier stunden bis zum weckerklingeln bleiben und man die letzten nächte, aus anderen gründen, auch kaum geschlafen hat und man schon etwas im hals zu spüren glaubt. irgendwo links knapp unter der brust sticht irgendwas, als würde das herz höchstpersönlich auf die barrikaden gehen, das knie schmerzt seit 2 jahren jede zweite nacht.
man sorgt sich um das unaufgeräumte zimmer, um unbeantwortete mails von freunden aus vergangener zeit, die erwarten, dass man ihr 200 seiten schweres romanskript liest und dazu etwas kluges zu sagen hat (neulich ist man beim versuch ein bisschen davon zu lesen, nach 8 seiten eingeschlafen, vielleicht wäre das die lösung - oh gott, bloß nicht), man hat angst vor dem bevorstehenden winter. als hätte man keine  brauchbaren sorgen! man sorgt sich um geld, diesen motherfucker namens geld, der das egalste der welt wäre, wäre er nicht das wichtigste. eine woche vorm ersten des monats im roten bereich, trotzdem kommen immernoch scheine aus diesem tonnenschweren kasten in der bank, trotzdem lebt man noch.

diese nacht nimmt kein ende. die waschmaschine dreht komplett durch, die nachbarn vögeln, sie winselt wie ein im sterben liegender hund. der mitbewohner reißt seine tür, die zu groß für den türrahmen ist, so laut auf, dass die ganze stadt davon aufgeweckt werden müsste. aber niemand merkt irgendwas. die lichter bleiben aus, die nachbarin winselt weiter. die luft ist stickig, staubig, schlecht. das eigene "bett", diese matratze auf ein paar improvisiert aneinandergenagelte holzlatten, quietscht bei jeder bewegung. also häufig und rücksichtslos.

man hat keine lust mehr zu studieren, man weiß nicht wofür man in den tristen räumen der uni noch einen tag mehr verbringen sollte. man hat in vier jahren viel gelernt, interessantes zeug, aber absolut kein interesse daran, noch einen zentimeter tiefer in die materie einzusteigen, geschweige denn später hinter den türen zu arbeiten, die sich nach abgeschlossenem studium öffnen werden.
die studentenfressen wiederzusehen, mit ihrem überlegenen gesichtsausdrücken, ihrer bubihaften ausstrahlung, ihrem völlig unbegründetem, aber maßlos ausgeprägtem selbstbewusstsein. sie denken, sie hätten die welt begriffen, dabei hält die welt sie im würgegriff. die verklemmten gesprächsthemen über nichts als elitäre scheiße. die witze, die so zurechtgelegt, und unecht sind, dass man aus scham verlernen möchte zu lächeln, wenn man doch aus höflichkeit und mitleid mitlacht.

mitleid. mit allem.

karriereaffen. die größten spießer der welt haben das image revoluzzer zu sein. revolutionär fühlen sie sich einmal die woche, freitags, wenn sie sich vollaufen lassen. am tag darauf sind sie dann zu verkatert um nochmal zu trinken. die ganz verrückten, wilden unter ihnen trinken samstags auch nochmal. und immer reden sie und erzählen doch nur von was sie können und was sie wissen.

3 wochen lang schlief man ohne jede schwierigkeit ein, völlig unabhängig von uhrzeit und zustand. weil man es begriffen hatte. all diese nachtgedanken, die dem morgen sowieso nicht stand halten können, sind null und nichtig. sämtliches grübeln und sorgen dieser welt sind keine sekunde lebenszeit wert. nichts ist pflicht, außer zu sterben und das ist in momenten wie diesen sowieso die letzte sorge.

aber nun soll man wieder ins leben einsteigen, in das leben das einem ganz subtil aufgedrängt wurde. welche anstrengung wurde von allen seiten unternommen, einem auf unauffälligste art einzureden, dass es kein höheres gut in unserer gesellschaft gibt, als es zu etwas bringen. und wie selbstverständlich wurde dabei hingenommen, dass "es zu etwas bringen" bedeutet, karriere zu machen, ärsche zu küssen. auf allen vieren denen untergeordnet, die es zu "mehr gebracht" haben als man selbst und diejenigen zu vergewaltigen die noch "nicht so weit" sind. dass "es zu etwas bringen" bedeutet, etwas zu machen was einen nur interessiert, weil man es zu "etwas bringen" möchte. wären diese zwei zwänge - geld und sozialgefüge - nicht da, wieviele würden dann noch zur arbeit gehen? aber stellte man diese frage öffentlich, würde von allen seiten mit seife im mund um die wette gebrüllt, wer alles seinen job liebe. weil die propagandamaschine hierzulande besser funktioniert als unter so manchen diktatoren.

die wenigen, die sich aus dieser welt befreit haben sind entweder totgesagt, verschwiegen und zur witzfigur gemacht oder nationalhelden, weil sie sich nicht länger totsagen, verschweigen und auslachen ließen. weil es doch noch ein paar brauchbare menschen in dieser westlichen welt zu geben scheint.

bedeutet erwachsen werden wirklich sich dem ganzen zu unterwerfen?
heißt verantwortung zu übernehmen wirklich, soviel zu arbeiten, dass man schuppenflechte kriegt und schlaftabletten frisst, weil das iphone niemals ruhe geben wird? ist es wirklich die hauptsache zu funktionieren? die gesellschaft braucht dich und dein geld um dich und dein geld unter kontrolle zu halten.
und man braucht die gesellschaft, weil man ja doch nicht die eier hätte, die es bräuchte um aus ihr auszubrechen. und weil das leben hier ja doch nicht gerade unkomfortabel ist. die waschmaschine hat aufgehört zu schleudern, die heizung rauscht nicht mehr, das liebesspiel der nachbarn hat ein ende gefunden. wie diese geschichte. und das ist ein leichtes. natürlich.

man weiß genau, man wird irgendwann einschlafen, man ist nicht die erste sonntag nacht auf dieser welt. der wecker wird einem aus dem schönstmöglichen zustand brutal herausreißen, man hatte viel zu wenig schlaf um sich nicht die nächste halbe stunde darüber zu ärgern. man steigt unter die dusche, man frühstückt, man gönnt sich die zeit, die man braucht um aufzuwachen, trinkt kaffee und raucht eine zigarette. vielleicht ist für all diese späße keine zeit, weil man fünf mal snoozt, oder weil man, vorrausschauend wie man ist, in der nacht bereits die weckzeit soweit nach hinten gestellt hat, dass man, unter aufopferung eines entspannten morgens vor der pflicht, eine halbe stunde länger unbekümmert schlafen können wird. in diesem fall holt man sich einen kaffee und ein belegtes brötchen auf dem weg, bei der immer gleichen bäckersfrau, die einen mit einem mysteriös freundlichem lächeln begrüßt und verabschiedet.
man wird in die uni fahren und die dinge doch auf die reihe kriegen, man wird dabei nur zwei mal kurz denken "was für eine scheiße" - und das auch mehr, weil man sich der vorherigen nacht bewusst ist und sich treu bleiben möchte, als aus tatsächlicher empfindung. das treffen mit dem freund eines freundes ist doch nicht ganz uninteressant, es entsteht ein gutes, ballastabwerfendes gespräch, weil man zu wildfremden menschen ehrlicher sein kann als zu freunden.

nach einem angetrunkenen telefonat mit der dame, für die das herz momentan stärker schlägt als es das eine ganze weile überhaupt getan hat, geht man frohen mutes und erschöpft ins bett. in der gewissheit, dass das leben doch nicht das schlechteste und diese welt doch etwas erträgliches ist. man nimmt sich vor, sich weniger sorgen zu machen, mehr zu lächeln und den dingen, die unverhofft an der tür klingeln, ohne blick durch das guckloch, beide arme auszubreiten und ihnen einen platz auf omas altem sessel anzubieten. bis zur nächsten sonntag nacht.

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